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1.4.3 Die Alte Geschichte in der Gegenwart
Die deutsche Altertumswissenschaft erlebte in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und durch den Zweiten Weltkrieg einen dramatischen Kontinuitätsbruch. Viele in Deutschland tätige Althistoriker jüdischer Herkunft emigrierten (z.B. Victor Ehrenberg), andere, wie Friedrich MünzerMünzer, Friedrich, kamen im Konzentrationslager um (1868–1942: Theresienstadt). Wiederum andere Altertumswissenschaftler konnten sich in ihren Arbeiten den Perspektiven der Zeit nicht entziehen. Sie bemühten etwa rassenkundliche Kategorisierungen als Erklärungsansatz für historische Entwicklungen, oder sie nutzten die institutionellen Chancen einer sich unter dem Diktat der Partei weitgehend neu organisierenden Wissenschaft, wie etwa Helmut BerveBerve, Helmut (1896–1979) oder Fritz SchachermeyrSchachermeyr, Fritz (1895–1987).
Heute erreicht die Alte Geschichte in Deutschland nicht mehr die Bedeutung, die sie im 19. und frühen 20.Jahrhundert besaß, weder was ihre Stellung in der internationalen Forschung, noch ihre Position im hiesigen Wissenschaftsbetrieb oder in der Gesellschaft betrifft. Dies gilt, obwohl sich das Fach nach dem Krieg an den meisten Universitäten wieder etablieren und zumal in den 1960er- und 1970er-Jahren personell erheblich ausweiten konnte: Sowohl beim Wachstum der Universitäten als auch bei den zahlreichen Neugründungen konnte sich die Alte Geschichte im Fächerkanon zwar noch behaupten, doch ihr Einfluss schwand.
Die Erarbeitung der zumeist noch auf Mommsen zurückgehenden Corpora hielt sowohl im westlichen als auch im östlichen Teil Deutschlands an. Die Ideologiediskussion in der Zeit des Kalten Kriegs gab manchen Themen eine besondere Relevanz und führte etwa zu einem Aufschwung der Forschungen über die antike Sklaverei. Daneben folgte die Alte Geschichte den anderen Geschichtswissenschaften in der Abkehr von der politischen EreignisgeschichteEreignisgeschichte, akzentuierte Strukturen und widmete sich schließlich in schneller Folge bislang vernachlässigten Themen: Über SozialgeschichteSozialgeschichte und WirtschaftsgeschichteWirtschaftsgeschichte hinaus der BegriffsgeschichteBegriffsgeschichte; den Ideen und der Religion; der Wissenschaft und Technik; aber auch der Geschichte des eigenen Fachs. Hinzugetreten ist in den letzten Jahrzehnten die ‚KulturgeschichteKulturgeschichte‘ mit ihren vielfältigen Themen: Alter, Alltag und GenderGender; Familie und Mentalitäten, Formen der Kommunikation und Repräsentation und anderes mehr (→ Kap.4.4). Innerhalb der Alten Geschichte nahmen und nehmen zudem geographische Schwerpunktsetzungen zu, um in diesen Regionen unter Berücksichtigung aller Quellen zu möglichst dichten Beschreibungen zu gelangen: Neben der Historischen Geographie (→ Kap.4.2) hat sich vor allem die Geschichte der römischen Provinzen zu einem eigenen, eng mit den Grundlagenwissenschaften und der Archäologie verbundenen Bereich entwickelt.
Ein nicht immer überschaubares, teils wuchernd erscheinendes Wachstum hat sowohl in den 1970er-Jahren (als von der Studentenbewegung eingeforderte Reflektionsphase) als auch in den 1990er-Jahren (im Zuge organisatorischer Fragen der Wiedervereinigung, dann aber auch eines europäischen Identitätsdiskurses) zu vermehrten Bestandsaufnahmen des Fachs, Selbstreflektion und Legitimationsbemühungen geführt. Insbesondere Christian MeierMeier, Christian hat schon früh vor einer Vereinzelung und Isolierung der einzelnen Forschungsfelder als Kehrseite der hochgradigen Spezialisierung gewarnt. Sie würden eine Kommunikation selbst der Fachwissenschaftler untereinander kaum mehr ermöglichen. Forderte Meier allerdings noch eine angemessene Relation zwischen Spezialforschung und ,Ganzem‘, so ist zuletzt bereits vor einem ,zu viel‘ und einer Krise durch – zumindest falsches – Wachstum gewarnt worden: Wissenschaftlich gehe angesichts gebundener und hoch spezialisierter Kapazitäten nicht nur die gegenseitige Überprüfbarkeit verloren, sondern aufs Ganze gesehen seien auch Sinn und innerer Zusammenhang der jeweiligen Studien kaum mehr vermittelbar–oder gar herzustellen. Ziel der provozierenden Bemerkungen ist es vor allem, an die von der Geschichte zu erwartende Orientierungsfunktion zu erinnern: Denn die forschende Beschäftigung mit der Geschichte dient nicht dem Zweck, ,Lücken‘ zu füllen, sondern neben der Dokumentation ihres Materials – wie sie Kernbestand der Grundlagenwissenschaften ist – hat die Geschichtswissenschaft auf den Orientierungsbedarf der jeweiligen Gegenwart Rücksicht zu nehmen. Insoweit muss jeder seine Beschäftigung mit der Geschichte nicht nur in methodischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Themenwahl ‚verantworten‘ können.
Nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung von Fragestellungen ist die jeweilige organisatorische Zuordnung der Alten Geschichte an den Universitäten. Hier spiegeln sich noch heute die doppelten Wurzeln des Fachs: Die Zugehörigkeit zu einem Historischen Seminar oder einem Institut für Geschichte folgt dem universalhistorischen Ansatz und der Idee von der Einheit der Geschichte. Die gemeinsame Einbindung mit Klassischer Archäologie und PhilologiePhilologie sowie ggf. anderen, regional oder zeitlich ausdifferenzierten altertumswissenschaftlichen Fächern oder Grundlagenwissenschaften folgt dem Konzept einer umfassenden Altertumskunde. Die Studiengänge lassen jedoch im Regelfall auch unabhängig von den Organisationsstrukturen oder von räumlichen Gegebenheiten beide Formen der Annäherung an die Alte Geschichte zu, und ebenso die Kombination beider Ansätze: Hier gilt es für jeden, innerhalb der von der TraditionTradition gebahnten Möglichkeiten den eigenen Weg zu finden.
Literatur
Zur Bedeutung der Alten Geschichte:
Ch. Meier, Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers, Berlin 1989.
W. Nippel (Hg.), Über das Studium der Alten Geschichte, München 1993; darin u.a.: Ch. Meier, Was soll uns heute noch Alte Geschichte? (1970), S.323–352.
E.-R. Schwinge (Hg.), Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des 2. Jahrtausends, Stuttgart/Leipzig 1995; darin u.a.: H.-J. Gehrke, Zwischen Altertumswissenschaft und Geschichte. Zur Standortbestimmung der Alten Geschichte am Ende des 20. Jahrhunderts, S.160–195.
J. Cobet/C.F. Gethmann/D. Lau (Hgg.), Europa. Die Gegenwärtigkeit der antiken Überlieferung, Aachen 2000.
K.M. Girardet, Die Alte Geschichte der Europäer und das EuropaEuropa der Zukunft. Traditionen, Werte, Perspektiven am Beginn des 3. Jahrtausends, Saarbrücken 2001.
K.-J. Hölkeskamp u.a. (Hgg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, darin u.a.: A. Winterling, Über den Sinn der Beschäftigung mit der antiken Geschichte, S.403–419.
H. Leppin, Das Erbe der Antike, München 2010.
J. Grethlein, Die Antike – das ‚nächste Fremde‘?, Heidelberg 2018.
Zur WissenschaftsgeschichteWissenschaftsgeschichte:
A. Momigliano, Wege in die Alte Welt, Berlin 1981.
P. Kuhlmann/H. Schneider (Hgg.), Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon (= DNP Suppl. 6), Stuttgart 2012.
K. Christ, Klios Wandlungen. Die deutsche Althistorie vom NeuhumanismusNeuhumanismus bis zur Gegenwart, München 2006.
K. Christ, Hellas. Griechische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1999.
K. Christ, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1982.
St. Rebenich, Theodor Mommsen, München 2002.
V. Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Fachs Alte Geschichte 1933–1945, Hamburg 1977.
B. Näf (Hg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Nationalsozialismus und Faschismus, Cambridge/Mandelbachtal 2001.
H.P. Obermayer, Deutsche Altertumswissenschaftler im amerikanischen Exil. Eine Rekonstruktion, Berlin/Boston 2014.
M. Sommer/T. Schmitt (Hgg.), Von Hannibal zu Hitler. „Rom und Karthago“ 1943 und die deutsche Altertumswissenschaft im Nationalsozialismus, Darmstadt 2019.
M. Willing, Althistorische Forschung in der DDR. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie zur Entwicklung der Disziplin Alte Geschichte vom Ende des 2.Weltkrieges bis zur Gegenwart (1945–1989), Berlin 1991.
I. Stark, Elisabeth Charlotte Welskopf und die Alte Geschichte in der DDR, Stuttgart 2005.
Einen Überblick zur Binnengliederung der Alten Geschichte, in dem auf knappem Raum die spezifischen Charakteristika der Epochen souverän herausgearbeitet werden, bietet:
J. Deininger, Historische Epochen: Antike, in: R. van Dülmen (Hg.), Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt/Main 1990, 2. Aufl. 2003, S.393–412.
Vgl. auch:
D. Timpe, Der Mythos vom Mittelmeerraum: Über die Grenzen der alten Welt, Chiron 34, 2004, 3–23.
Die Bezüge zwischen griechischer und orientalischer Kultur erörtert anhand zahlreicher anschaulicher Beispiele:
W. Burkert, Die Griechen und der Orient, München 2003.
J. Wiesehöfer, Alte Geschichte und Alter Orient oder Ein Plädoyer für die Universalgeschichte, in: R. Rollinger u.a. (Hgg.), Getrennte Wege? Kommunikation, Raum und Wahrnehmung in der Alten Welt, Frankfurt 2007, 595–616.
2 Die Quellen der Alten Geschichte und ihre Hilfs- und Nachbardisziplinen
Überblick
Die Aussagemöglichkeiten in der Alten Geschichte hängen natürlich in hohem Maße von der Art und Weise ab, wie das Material beschaffen ist, das uns über diese Zeit überhaupt informiert. Diese Informationen nun, die Quellen der Alten Geschichte, sind äußerst bunt und vielfältig: Wir besitzen literarische Texte, dokumentarische Notizen, zahlreiche Inschriften und Münzen und nicht zuletzt materielle Befunde. All diese Quellen haben eine ganz eigene Geschichte hinter sich, und sie erzählen auch jeweils ganz eigene Geschichten. Manche Quellen geben Aufschluss über die Politik- und EreignisgeschichteEreignisgeschichte, andere Quellengattungen sind besonders aussagekräftig für die Bereiche Wirtschaft, Gesellschaft und Alltag. Zugleich erfordern die unterschiedlichen Quellengattungen viel Erfahrung und Spezialkenntnisse: Was gilt es zu berücksichtigen, wenn man einen historiographischen Text untersucht? Was können uns Inschriften und Münzen über die Antike sagen, und weshalb sind die in ÄgyptenÄgypten gefundenen Papyri von ganz unschätzbarem Wert für die Geschichtswissenschaft? Das sind nur einige der Fragen, die im folgenden Kapitel zur Sprache kommen werden.
2.1 Einleitung: Quellen und Quellengattungen
2.1.1 Quellen und SekundärliteraturSekundärliteratur
Als Quellen bezeichnet man im Allgemeinen „alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann“ (Paul KirnKirn, Paul). Quellen versteht man in diesem Zusammenhang also als Informationsquellen, die die Historiker auswerten und interpretieren müssen, wenn sie sich ein Bild über eine bestimmte Zeit verschaffen möchten. Von solchen Informationsquellen zu unterscheiden sind natürlich die Auswertungen und Interpretationen anderer; dies ist die so genannte Forschungs- oder SekundärliteraturSekundärliteratur. Die Historiker müssen bei ihrer Arbeit selbstverständlich beides berücksichtigen, doch der Dreh- und Angelpunkt, die Grundlage einer jeden historischen Untersuchung kann nur ihr Bezug zu den Quellen sein.
Wichtig ist nun, dass die Unterscheidung zwischen Quellen und SekundärliteraturSekundärliteratur nicht absolut ist, d.h., dass der jeweilige Charakter zum Beispiel eines Textes nicht für alle Zeiten festgelegt ist. Ob etwas eine QuelleQuelle ist oder aber Sekundärliteratur, dies hängt letztlich davon ab, wofür man sich interessiert, welche Fragestellung man jeweils verfolgt: Wer sich beispielsweise mit der Sozial- und WirtschaftsgeschichteWirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt beschäftigt, für den sind die Publikationen von Michael RostovtzeffRostovtzeff, Michael (1870–1952) aus den 1920ern bis 1940ern – auch heute noch – eine wichtige Sekundärliteratur; wer aber die Geschichte der althistorischen Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht, für denjenigen ist Rostovtzeff zur Quelle geworden. Umgekehrt beschränkt sich gerade in der Alten Geschichte ein großer Teil der schriftlichen Quellen nicht darauf, nur Informationen zu liefern. Vor allem die antiken Geschichtsschreiber transportieren darüber hinaus oft auch eine Deutung und Einschätzung des Berichteten, und man muss sich klarmachen, dass sie damit im Grunde genommen nichts anderes tun als die moderne Forschung: sie interpretieren Fakten. Die Grenzen zwischen Quellen und Forschung können also fließen, und am besten bestimmt man diese Begriffe daher in Relation zueinander und zur Tätigkeit des Historikers: QUELLEN sind das, was interpretiert wird, und Forschung bzw. Sekundärliteratur ist das Ergebnis einer solchen Interpretation.
2.1.2 TraditionTradition und Überreste
Von diesen grundsätzlichen Feststellungen ausgehend hat man nun immer wieder versucht, die Quellen der Geschichtswissenschaft in Quellengattungen oder Quellenarten zu untergliedern, um so das selbst für die Antike doch recht umfangreiche Material übersichtlicher zu gestalten. Eine gängige Einteilung in diesem Zusammenhang ist die auf Johann Gustav DroysenDroysen, Johann Gustav (1808–1884) zurückgehende und von Ernst BernheimBernheim, Ernst (1850–1942) aufgegriffene Unterscheidung von TRADITIONTradition und Überresten. Gemeint ist damit der Unterschied zwischen ganz bewusst im Hinblick auf die Nachwelt ‚erzeugten‘ und überlieferten Quellen einerseits und eher ‚unabsichtlich‘ erhalten gebliebenem Material auf der anderen Seite. Ähnliches hatte Hermann BengtsonBengtson, Hermann (1909–1989) im Sinn, als er zwischen primärem (Akten-)Material (Urkunden, Briefe, Reden etc.) und sekundärer, geformter Überlieferung differenzierte, wobei auch er unter Letzterer vor allem die antike Geschichtsschreibung verstand. Hier wie dort steht der Gedanke im Mittelpunkt, dass es für die historische Interpretation wichtig ist zu wissen, in welchem Kontext eine bestimmte QuelleQuelle entstanden ist und welche Absichten hinter ihrer Überlieferung stehen könnten: War die Quelle ein Teil des Geschehens selbst, oder ist sie der Versuch, anhand von PrimärmaterialPrimärmaterial die Geschichte im Nachhinein zu rekonstruieren? Haben wir ein originales Puzzlestück vor uns, oder ein Bild, das jemand anderes für uns gezeichnet hat? Mitgedacht wird hierbei unterschwellig, dass das primäre Material, der Überrest, nicht in dem Maße täuschen will oder auch nur kann, wie man dies für Teile der Tradition nicht nur vermutet, sondern längst schon erwiesen hat.
Abb. 3
Thukydides (um 460 bis nach 400 v. Chr.), griechischer Geschichtsschreiber, hellenistische Porträtbüste Paris, Louvre
An diesem Punkt entstehen freilich Schwierigkeiten. Zwar ist die Frage, die hinter der Einteilung in TraditionTradition und Überreste bzw. Primär- und SekundärmaterialSekundärmaterial steht, für jede historische Untersuchung von zentraler Bedeutung. Zweifellos haben eine Münze, eine Inschrift oder ein auf PapyrusPapyrus überlieferter Vertrag einen ganz anderen Aussagewert und sind auch anders zu interpretieren als ein antikes Geschichtswerk wie etwa das des TacitusTacitus. Selbstverständlich müssen Historiker bei ihrer Arbeit eventuelle Überlieferungsabsichten und unterschiedliche Zeitnähe von Quellen in Rechnung stellen. Allerdings haben wir damit wohl dennoch kein taugliches Gliederungskriterium gewonnen, mit dessen Hilfe wir uns einen vernünftigen Überblick über den Gesamtbestand unserer Quellen verschaffen könnten, im Gegenteil: Es ist bei vielen Quellen nämlich nicht ganz klar, in welche der beiden Kategorien sie fallen. Ist zum Beispiel ein bestimmter Brief für die Nachwelt verfasst worden oder nicht? Hat ein erhalten gebliebenes Monument nicht auch eine Aussage, verkörpert es nicht auch ein ‚Programm‘? Noch komplizierter wird das Ganze dadurch, dass eine Sekundärquelle, wenn man sie unter einer anderen Fragestellung bearbeitet, ohne weiteres zum PrimärmaterialPrimärmaterial werden kann, ungefähr so, wie auch Forschungsliteratur unter bestimmten Aspekten Quellencharakter besitzt. Der athenische Historiker ThukydidesThukydides etwa ist für den Gegenstand, den er darstellt, für den Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.), gewiss unsere beste und wichtigste QuelleQuelle; aber er liefert hiervon eben nur eine sekundäre, geformte Rekonstruktion. Wer jedoch die klassische athenische Geschichtsschreibung selbst in den Blick nimmt und damit genau die Intentionen und Darstellungstendenzen, die im Hinblick auf eine Untersuchung des Kriegsgeschehens stören könnten, für den ist Thukydides eine unschätzbare Primärquelle! Wir sollten daher festhalten, dass die Überlegungen, die zu den Begriffspaaren ‚Tradition – Überreste‘ und ‚Primärmaterial – SekundärquellenSekundärquellen‘ geführt haben, unerlässlich sind für die Arbeit mit Quellen, die so genannte QuellenkritikQuellenkritik; als analytische Schneisen durch den Dschungel der Materialfülle eignen sie sich weniger.
2.1.3 Schriftquellen und Geschichte
Wer solche Schneisen schlagen will, der wird das Material zunächst in schriftliche und schriftlose Quellen trennen. Mit dieser ebenso einleuchtenden wie grundlegenden Unterscheidung korrespondiert die Wissenschaftskonvention, dass die ‚eigentliche‘ Geschichte erst mit der Erfindung und Verbreitung der Schrift anfängt und die schriftlose Vergangenheit des Menschen der Vor- und Frühgeschichte zuzuweisen ist. Demnach befasst sich das Universitätsfach ‚Geschichte‘ in der Regel nicht mit völlig schriftlosen Kulturen (→Kap.1.1.2). Man überlässt dies anderen, wie etwa den Prähistorikern oder den Ethnologen. Begründet wird das gerne damit, dass erst die Schrift den Beginn von HochkulturHochkultur darstelle, eine Auffassung, die freilich schon deswegen problematisch ist, weil sie strenggenommen voraussetzt, Kulturen nach höher- und minderwertig klassifizieren zu können. Das ist zwar schon oft versucht worden, und entsprechend gibt es mehrere voneinander abweichende ‚Kultur-Systematisierungen‘. Diese Ansätze haben in den letzten Jahrzehnten aber zunehmend an Überzeugungskraft eingebüßt, und es herrscht heutzutage in der Wissenschaft nicht einmal mehr darüber Einigkeit, ob eine ‚objektive‘ Klassifizierung von Kulturen überhaupt möglich ist.
Außerdem gibt es auch in der Alten Geschichte weite Bereiche, für die keine oder kaum Schriftquellen existieren. Dies betrifft bestimmte Zeiträume wie etwa die so genannten DUNKLEN JAHRHUNDERTE der griechischen Geschichte (12.–8. Jh.v. Chr.), bestimmte Gebiete an den Rändern der antiken Welt (zum Beispiel weite Teile des heutigen Deutschlands), und auch bestimmte Fragestellungen wie die Siedlungsgeschichte. Überall dort sind wir völlig oder fast völlig auf schriftloses Material, konkret auf die Erkenntnisse der Archäologie angewiesen. Deshalb darf man sich durchaus fragen, ob die oben angesprochene Arbeitsteilung zwischen (Alter) Geschichte und (prähistorischer) Archäologie nicht lediglich pragmatisch betrachtet werden sollte. Andererseits ist aber unstrittig, dass zum Beispiel Politik- und EreignisgeschichteEreignisgeschichte, IdeengeschichteIdeengeschichte (auch Details der ReligionsgeschichteReligionsgeschichte) und MentalitätsgeschichteMentalitätsgeschichte nicht oder nur unvollkommen ergründet werden können, wenn Schriftquellen ganz fehlen. Schriftliches Material vervielfacht also die Möglichkeiten der historischen Forschung, und vor diesem Hintergrund ist es vielleicht doch gerechtfertigt, die Geschichte im engeren Sinne mit der SchriftlichkeitSchriftlichkeit beginnen zu lassen.