Kitabı oku: «Jette», sayfa 2
Winter und Weihnachten 1944
Das Zimmer im Haus „Am Bausenberg“ war ihre Zuflucht. Hier wohnten sie, Jette, ihre Mutter, die zwei Jahre jüngere Schwester Marisa. In dem kleinen Raum spielte sich ihr Leben ab: Anfangs schliefen die drei in einem großen Bett. In einer Ecke neben einem Kachelofen, der von Tante Friedchens Küche aus beheizt wurde, kochte Jettes Mutter auf dem elektrischen Kocher, den sie von der Stadtverwaltung Werdohl erhalten hatte; sie aßen und spielten an dem einen Tisch in der Mitte des Zimmers. Er war auch für Essensvorbereitungen ideal. Jettes Mutter hatte die sogenannte Koch- und Waschecke mit einem Paravent abgeteilt; einen Luxusgegenstand gab es hier im Zimmer auch, das war das Radio, aus dem Nachrichten, laute Reden und Musik kamen. Irgendwie gesellte sich später ein Ohrensessel dazu, der mit weinrotem Bouclé bezogen war und zur Nacht zu einem Liegestuhl ausgeklappt wurde. Allerdings konnte er nicht gänzlich flach gestellt werden, er behielt das Rückenstück mit einer Neigung von ca. 25° bei. Als Jette etwas älter war, diente er ihr oder Besuchern als Bett.
Obwohl zwei andere Kinder im Haus wohnten, sah Jette diese selten. Der Altersunterschied war damals wohl zu groß; sie waren schon 5 und 6 Jahre alt und konnten mit ihr, der Dreieinhalbjährigen wohl wenig anfangen. Ihre Oma, die mit ihrer Patentante und dem Baby Heinz-Jürgen ganz oben unter dem Dach eingezogen war, bekam sie auch selten zu Gesicht. Die Treppen waren steil, der Weg nach oben oder unten für sie allein sehr beschwerlich.
Mit der Zeit wurden die Lebensmittel sehr knapp. Wenn die Mütter zum Hamstern unterwegs waren oder Brennholz holten, musste Jette auf die kleine Schwester aufpassen. Wie? Das hatte sie von ihrer Mutti „abgeguckt“. Am schönsten empfand sie die ersten langen Winterabende in dem Zimmer. Dann saßen sie beide auf Muttis Schoß in der Ecke am wärmenden Ofen, und die las ihnen aus einem Märchenbuch vor, erzählte ihnen von ihrem Papa, sang wunderschöne Lieder, in die sie einstimmten, und lehrte sie Kinderreime oder kleine Verse in der ostpreußischen Mundart: „Putthäneke, Putthäneke, wat deist up unserm Hof …“ „Schneeflöckchen, Weißröckchen …“ wurde in ihrem „ersten“ Winter zu ihrem Lieblingslied. So tat sie es ihrer Mutter nach, wenn diese zum Hamstern „unterwegs“ war und nahm Marisa auf ihren Schoß!
Die ersten Schneeflocken waren ein riesiges Erlebnis für Jette. Als diese an die Fensterscheibe flogen, stand sie „stundenlang“ dort und beobachtete die kleinen Kristalle, die alle unterschiedlich aussahen, und doch dann in Sekundenschnelle wieder schmolzen und einfach weg waren. Sie konnte sich nicht satt sehen an den weißen Flöckchen, die aus dem Himmel zu ihnen herniederrieselten! Obendrein kam am nächsten Morgen dann die nächste Überraschung! Als sie zum Fenster lief und mehr Schneeflocken beobachten wollte, konnte sie nicht hinaussehen: Der „Herr Frost“ hatte über Nacht Eisblumen an ihr Fenster gemalt. So sagte es jedenfalls ihre Mutti, und sie hatte lange die Vorstellung, dass dieser unbekannte große Mann tatsächlich diese Eisblumen über Nacht ans Fenster gemalt hatte.
Als Jette zum ersten Mal nach draußen gehen durfte, konnte sie die Pracht, die alles in eine weiße Decke gehüllt hatte, überhaupt nicht begreifen. Torpfosten, Mauern, Büsche, Bäume, Häuser trugen ein weißes Häubchen. Die Straße war plötzlich über Nacht so breit geworden! Bürgersteige und Straße waren eins! Im Haus existierte ein Schlitten, den, was sie viel später erfuhr, der „unheimliche“ Opa Schröder selber gezimmert hatte. Ihre Mutter setzte die beiden Töchter darauf und zog sie über den Bausenberg bis hin zum Wald. Eingemummelt in Decken fühlte Jette sich auf dem Schlitten, als säße sie in einem Bett. Der Unterschied war nur, dass sie draußen war und auch noch eine kleine weiße Wolke aus ihrem Mund kam! Marisa saß vor ihr. Sie musste sie festhalten.
Der Winter 1944 war hart und dauerte lang
Jettes Mutter zog immerzu mit Tante Friedchen oder Tante Anneliese los, um Brennholz im nahen Wald zu sammeln. Da dann noch zwei oder drei Frauen im Haus zurückblieben, konnten Marisa und Jette allein gelassen werden. Wenn Marisa nach ihrer Mutti rief oder es ihr langweilig wurde, nahm Jette sie, wie bei der Mutti abgeguckt, auf ihren Schoß, sang und erzählte ihr Geschichten oder ließ sie Reime nachplappern. Zum Essen wurden sie meistens aus dem Zimmer gerufen und mit den anderen großen Kindern abgespeist. Danach durften sie wieder in ihr Zimmer gehen und warten und warten, bis ihre Mutti nach Hause kam.
Zum Weihnachtsfest 1944 gab es eine riesige Überraschung. Jettes und Marisas Papa tauchte für zwei Tage von der italienischen Front auf. Eines Abends in der Dämmerung klopfte es an der Tür, und dieser Mann stand plötzlich mitten im Zimmer. Jettes Mutti schrie vor Freude und Überraschung und flog ihm um den Hals. Jette erkannte ihren Vater natürlich nicht im Dämmerlicht. Doch als er sie und Marisa gleichzeitig auf den Arm nehmen wollte, hatte er nur Jettes Zutrauen erhalten. Marisa wollte sich nicht drücken und küssen lassen. Nur Jette ließ es zu, weil Mutti ihr versicherte, dass das ihr Papa sei.
Er hatte sich einen Bart stehen lassen, und das gefiel Jette überhaupt nicht; er kratzte und fühlte sich so rau an ihrer Wange an. Sie ließ ihn jedoch gewähren, weil ihre Mutti so glücklich und fröhlich war. Sie lachte, weinte und sagte immer wieder: „Das ist euer Papa!“ Das kleinere Schwesterchen Marisa jedoch hatte sich unter dem Tisch verkrochen und weinte und rief: „Schick den fremden Mann weg! Schick den fremden Mann weg!“
Nun kam die erste Nacht, in der die Große auf dem Ohrensessel schlief und es himmlisch fand, weil sie sich erstens umdrehen konnte, wann sie wollte, und zweitens atmete ihr niemand ins Gesicht. Sie fühlte sich sehr erwachsen, weil sie ein Bett für sich allein hatte! Dass das keine sonderlich gesunde Bettstatt war, daran hatte sicherlich auch ihre Mutti nicht gedacht. Aber auf Jettes Bitten hin durfte sie auch, nachdem ihr Papa abgereist war, weiterhin auf dem Ohrensessel schlafen.
Das Schlafen in dem großen Bett zusammen mit ihrer Mutter und Marisa hatte Jette für immer geprägt. Sie hasst es heute noch, ihr Bett, ja sogar das Schlafzimmer, mit jemandem, außer ihrem Mann, zu teilen. Sogar ein Zweibettzimmer im Krankenhaus ist eine Qual für sie, weil sie jemanden in der Nähe atmen hört. Der Liegestuhl (25° Neigung) sollte sich später in ihrem Leben als nicht so gesund für ihre Wirbelsäule herausstellen.
Jettes Papa hatte aus Italien etwas unglaublich Exquisites und Schönes als Weihnachtsgeschenk mitgebracht. Die kleine Familie saß am Tisch, und zum Nachtisch zauberte er drei gelbrote Bälle auf einen Glasteller und erklärte ihnen, dass das Apfelsinen seien, die man obendrein auch noch essen konnte! Mutti Jülich nahm ein kleines Messer zur Hand und schnitt in bestimmten Abständen in diese Frucht. Dann pellte sie sie, ließ jedoch die Schale unten ringsherum in den Segmenten stehen, sodass der kleine Ball in der Mitte lag, der dann wiederum von Mutti von der Mitte aus in Segmenten auseinandergedrückt wurde. Inzwischen duftete es im Zimmer nach einem wunderbaren Parfüm! Ein prächtiges Gebilde, das einer Blume glich, lag vor ihnen. Jette konnte sich gar nicht vorstellen, dass sie das essen durften. Aber dann reichte Mutti Jülich jedem von ihnen ein Stückchen, das sie dann in den Mund steckten. Es war ein himmlischer Genuss mit so viel Süße und Saft, dass sie hoffte, dieser Festschmaus würde nie enden. Nun, er hörte ja auch nicht auf, denn es lagen ja noch zwei weitere Apfelsinen auf dem Tisch. Mit ihnen wurde genauso verfahren wie mit der ersten Frucht. Nachdem alle ihren Nachtisch genossen hatten, wurden die Schalen nicht einfach weggeworfen! Mutti zeigte ihnen, wie man noch mehr Apfelsinenduft im Zimmer verbreiten konnte. Die Schalen wurden gebogen und gedrückt, sodass Jette sehen konnte, wie winzige Spritzer aus den Poren sprühten. Diese ganze Handlung war so aufregend, dass sie sie nie, nie in ihrem Leben vergessen hat. Bis die Kinder je wieder eine Apfelsine zu Gesicht bekommen würden, sollten mindestens 5 Jahre vergehen. Der Papa verließ sie nach zwei Tagen wieder, um in Italien weiter zu kämpfen, kam aber nach 3 Wochen noch einmal zurück, im dicken Schnee!
Herr Jülich hatte „das große Los gezogen“ und stand nicht an der Ostfront im Gefecht mit der russischen Armee, wie die Ehemänner der Tanten oder weitläufigen Verwandten im Haus. Wie Tante Anneliese, Frau Jülich, die Großmutter und alle anderen Hausbewohner die niederschmetternden Nachrichten vom Vorrücken der Roten Armee bis Berlin in den letzten Kriegsmonaten verkrafteten, davon bekam Jette nichts mit. Hier im Haus war sie ja nur ständig mit ihrer kleinen Schwester allein.
Ihre Mutti war so oft mit den anderen Frauen unterwegs, um Brennholz für die Öfen zu sammeln, und um Essen auf den Tisch zu bringen. Sie ging so häufig hamstern. Die Lebensmittel wurden immer knapper! Die Luftangriffe wurden immer häufiger! Dann und wann, wenn die Sirenen aufheulten und Mutti zu Hause war, griff sie und führte ihre Kinder in den Luftschutzbunker im Keller, wo dann auch die anderen Hausbewohner nach und nach eintrafen. Wenn sie zufällig alleine waren, ging Jette mit ihrer kleinen Schwester auch allein in den Keller.
Die Großmutter, Oma Jülich, war eine sehr gläubige Frau, die meistens die Bibel aufschlug und einige Psalmen vorlas oder mit ihnen allen betete. Alle machten mit oder hörten gebannt zu, immer den Blick zur Decke gerichtet, ob ihnen etwas Schlimmes drohte. „Ob Mutti wohl auch jetzt in einem Luftschutzbunker sitzt? Hoffentlich passiert ihr nichts da draußen!“
Später zogen die Alliierten als Besatzungs- und Siegermacht durch die Straßen und Häuser. Es muss März oder April 1945 gewesen sein, weil Jettchen nach der Schneeschmelze schon allein draußen vor der Kellertür spielen durfte. Dort sprach sie ein Soldat an. Er fragte sie, wo ihre Mutter sei. Sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich und ging ganz stolz voran zu ihrem Zimmer. Er hatte der Kleinen etwas in die Hand gedrückt. Als Frau Jülich sie beide sah, war diese überrascht, schien aber zugleich auch sehr böse zu sein! Sie nahm ihrer Tochter nämlich das Geschenk aus der Hand und sie schützend auf den Arm. Jettchen wusste gar nicht, was das alles bedeuten sollte! Überhaupt hatte sie solch etwas bunt Eingepacktes noch nie gesehen! Also störte sie der Verlust nicht.
Die Mama beschimpfte jedoch lauthals den Soldaten und fragte, was er mit dem Töchterchen gemacht hatte. Aber da dieses weder weinte noch traurig aussah, ließ sie es dabei bewenden. Sie sprach zu ihm in Worten, die Jette überhaupt noch nie gehört hatte und auch nicht verstand. Plötzlich entdeckte er auf der Fensterbank Muttis Fotoapparat und ging darauf zu und sprach wieder in Worten, die Jette nicht verstand. Ihre Mutti hatte anscheinend Angst, dass er den Apparat mitnehmen wollte, aber nach seiner Inspektion gab er ihn wieder zurück. Mutti Jülich war überglücklich und erzählte ihm wieder in ganz fremden Worten etwas. So kannte Jette ihre Mutti gar nicht! Plötzlich nickte der Soldat zustimmend und nachdenklich und wollte das Zimmer verlassen. Er hielt jedoch inne und gab Frau Jülich noch ein paar bunt eingepackte Sachen aus seiner Tasche, die ähnlich aussahen wie das Ding, das er der Kleinen vor der Kellertür geschenkt hatte. Frau Jülich lächelte ein wenig. Er freute sich, dass er der Familie eine solche Freude damit machen konnte. Die beiden lachten noch einmal kurz zusammen, dann sagte er: „Good-bye!“ – und Jettes Mutti auch, und dann war er verschwunden. Sie nahm Marisa und Jette auf ihren Schoß, und dann packte sie die kleinen Sachen aus: Ihr erstes Stückchen Schokolade, das sie zusammen aßen! Ach, sie schmeckte ganz gut und war auch süß, aber die Farbe war schon komisch: braun!
Opa, Gustav Trescher
Im April 1945 gab es plötzlich ein großes Hallo im Jülichschen Zimmer! Der Opa, Gustav Trescher, stand plötzlich davor. Endlich konnten sich Vater und Tochter nach neun Monaten wieder einmal in die Arme schließen. Der Opa kannte beide Enkelinnen seit der Geburt, aber sie kannten ihren Opa nicht! Er war ein stattlicher Mann mit Glatze und Schnurrbart. Er hatte die gleichen Augen wie ihre Mutti und eine besonders weiche Stimme, die sie als so vertrauenswürdig und lieb empfanden, dass sie sich einfach auf seinen Arm nehmen und liebkosen ließen. Ihre Mutti war seine einzige Tochter. Wohin seine zweite Frau, Elisabeth, geflüchtet war, wusste er zur Zeit seiner Ankunft in Werdohl nicht. Opa war Reichsbahnobersekretär in Stallupönen (Ebenrode) und hatte mit seiner Frau und Tochter und Muttis Cousine Gisela die gesamte obere Etage des Bahnhofs bewohnt, wo die kleine Jette geboren wurde.
Das Foto aus Ostpr., das letzte von Jettes Opa Trescher. Er besaß einen großen Fischteich in seinem Garten. (1941)
Seine erste Frau Bertha, nach der Marisa ihren zweiten Vornamen erhielt, war 1940 an Herzschwäche gestorben. Er heiratete dann Elisabeth. Übrigens starb die Schwester von Bertha, Frau Jülichs Tante Lotte, auch an Herzschwäche. Deren Tochter Gisela, 8 Jahre jünger als Jettes Mutti, wuchs nach dem Tod ihrer Mutter bei Omi und Opa Trescher auf. Wegen der jungen Gisela hatte Herr Trescher schnell wieder geheiratet.
In einem Bericht über die deutsche Reichsbahn schreibt Werner Kahrau im Ostpreußenblatt: „Ihr Ende fand die deutsche Eisenbahngeschichte von Stallupönen (Ebenrode), als der Reichsbahnobersekretär Trescher mit der letzten Lokomotive in der Nacht vom 16. zum 17. Oktober 1944 den Bahnhof Stallupönen in Richtung Königsberg (Pr) verlassen musste.“ Offensichtlich hatte er den Auftrag bekommen, die deutsche Lok bis nach Königsberg zu retten, damit sie nicht in russische Hände fiel und diesen den Weg in den Westen schneller ermöglichte.
Nun, wie Jettes Mutter immer wieder berichtete, stammt die Familie Trescher aus dem Salzburgischen Land. Sie waren Grund- und Großgrundbesitzer gewesen, aber als Protestanten/Lutheraner 1732 des Landes verwiesen worden. Da Jettes Mutter in Gumbinnen geboren wurde, nimmt sie an, dass ihre Vorfahren zu der oben beschriebenen Gruppe Salzburgern gehörten, die ihrer Religion wegen verfolgt worden waren … Nun waren sie wieder auf der Flucht.
Nachdem Opa Trescher zu seiner Tochter gestoßen war, wohnte auch er bei ihnen im Zimmer. Wo sie alle schliefen? Nun, das war recht einfach: Opa erhielt den Ohrensessel mit verlängertem Fußstück! Jette wurde „ausquartiert“, und ihre Mutti und Marisa hatten das große weiße Bett für sich. Zuerst schlief Jette oben bei Tante Anneliese, Baby Heinz-Jürgen und Oma Jülich.
Oft übernachtete auch Marisa ganz oben. Eines Tages kam Tante Anneliese ganz aufgeregt zur Jülichschen Familie die Treppe heruntergelaufen: „Schaut doch einmal, was hinter dem Bettchen lag, in dem Marisa geschlafen hat: lauter kleine Haarbüschel! Die habe wir gerade erst beim größeren Reinemachen entdeckt!“
Was war passiert? „Marisachen“ hatte sich zum gemütlicheren Einschlafen ein paar Haare ausgezupft, sich um den Daumen gewickelt und dann mit dem dritten und vierten Finger genuckelt. Mit dem haarigen Daumen strich sie sich etwas schön Weiches um die Nase und konnte dann schneller einschlafen! Zu der Zeit gab es keine Nuckel oder Ähnliches! Morgens hatte Marisa dann das kleine Büschelchen hinters Bett geworfen. Damit war das Rätsel gelöst: Ihre Mutti hatte eine kahler werdende Stelle an Marisas Köpfchen entdeckt und wusste nicht, woher diese kam! – Jeder hatte so seine Methode, sich lauschig und angenehm in den Schlaf zu befördern. Das war Marisas! Da musste also Abhilfe geschaffen werden.
Bald nachdem die Geschichte bekannt wurde, erklärte sich die Nachbarin, Tante Elli, sehr schnell bereit, Jettchen zum Schlafen aufzunehmen. Sie wohnte gegenüber und hatte eine ganze Etage (5 Zimmer!) für sich und ihre Tochter Gisela. Jette wurde abends hinübergebracht, und schnell ging’s dann auch gleich ins Bettchen. Die Übernachtungen bei dieser Tante Elli waren allesamt interessant. Sie hatte viel mehr Bücher, und Jette hörte wunderschöne andere Geschichten, die ihr die schon große, fast erwachsene Gisela vorlas. Sie kam ihr so unendlich alt vor; dabei war diese erst 14 oder 16! Das Übernachten bei Freunden war ja so spannend, eigentlich wie heute auch noch!
Und wohin war Opas Frau geflüchtet? Lebte sie noch? Das Deutsche Rote Kreuz zusammen mit der Evangelischen Kirche hatte 1945 in Hamburg einen Suchdienst eingerichtet, wo Familien nach ihren Angehörigen suchen konnten: Es wurden Ehemänner, Ehefrauen, Kinder, Onkel, Tanten gesucht? Viele Fotos wurden herumgereicht und an Aushängetafeln (Kirche, Rathaus usw.) angeheftet. Später wurde speziell nach Kindern gesucht. Sie konnte sich gut daran erinnern, dass Opa und Mutti mittags um 14 Uhr mit Bleistift und Papier am Radio saßen und den Suchdienst anhörten, um Adressen von verwandten und bekannten Familien mitzuschreiben. 12 Millionen Menschen suchten in Deutschland damals ihre Familienmitglieder. Weil sehr viele nach Schleswig-Holstein geflüchtet waren, bildete sich in Flensburg auch eine Suchzentrale, in der Tausende von Karteikarten abgeliefert wurden. Was wäre es einfach gewesen, hätte es damals schon das Internet und all die Suchmaschinen und Chat Rooms gegeben! Aber zu der Zeit gab es in einem normalen Haushalt weder ein Telefon noch eins in einer Straße wie dem Bausenberg. Zu der Zeit gab es eins lediglich auf der Post, unten in der Freiheitsstraße, etwa eine halbe Stunde zu Fuß vom Bausenberg entfernt.
Über den Suchdienst am Radio erfuhr Opa Trescher, dass seine Frau mit ihrem Bruder und dessen Familie nach Sattenhausen bei Göttingen geflüchtet war. Jedenfalls ging die Familie Jülich eines Tages zum Bahnhof und begleitete den Opa dorthin, damit er zu seiner Frau, Jettes und Marisas Omi, fahren konnte. Jette war so traurig, dass ihr geliebter Opa wegfuhr!
„Opa, nick-nack?“
An eine kleine Episode, die Opa und Jette betraf, kann sie sich noch sehr gut erinnern; sie wurde auch oft von ihrer Mutti zum Besten gegeben. Sie saß so gern bei Opa auf dem Schoß und kuschelte mit ihm nach dem Mittagessen, wenn er ein kleines Nickerchen hielt. Nun, sie hatte am Morgen gesehen, wie er sich mit einer kleinen Nagelschere den Schnurrbart saubergestutzt bzw. beschnitten hatte. Sie fand das so spannend und wollte eigentlich auch mal mit dem kleinen Scherchen schneiden. Nun saß sie bei ihm auf dem Schoß und entdeckte genau die kleine Schere auf der Fensterbank. Sie brauchte nicht einmal von seinem Schoß herunter, um sie in die Hand zu nehmen! Sie schnitt sich selber ein paar Haare kürzer, um auszuprobieren, wie das Schneiden so funktionierte. Opa hielt die Augen geschlossen. Er war eingedöst, und deshalb fragte sie ihn leise: „Opa, nick-nack?“ Keine Antwort. Sie wieder: „Opa, nick-nack?“ Sie hatte sein Ohrläppchen in der geöffneten Schere! Sie wieder: „Opa, nick-nack?“ Und dann grummelt er: „Ja, ja, mein Jettchen; mach nur!“ Und sie schnitt, weil er es ihr ja erlaubt hatte, in sein Ohrläppchen.
Er schrie auf, schnellte auf seine Beine, hielt sie aber immer noch in den Armen. Das Blut tropfte auf sein Hemd und auf ihr Kleidchen. Aber dann fing er plötzlich ganz laut an zu lachen, gab ihr einen Kuss und setzte sie ab. In dem Augenblick kehrte Mutti ins Zimmer zurück, sah Jette mit der Schere in der Hand, Opas blutendes Ohr und wollte ihr gerade einen Klaps für die Ungezogenheit geben, als er dazwischenfunkte und rief: „Aber ich hatte es ihr doch erlaubt! Was kann Jettchen dafür, dass ich so dumm war!“ Unmittelbar danach gab es eine Erziehungsstunde von Mutti Jülich über die Gefährlichkeit einer Schere, und dann musste Jette den Kinderreim lernen und oft aufsagen: „Messer, Gabel, Scher’ und Licht, dürfen kleine Kinder nicht!“ Als gehorsames Kind hatte sie lange gebraucht, bis sie überhaupt je wieder eine in die Hand genommen hat. Ihr Opa war für sie der beste Opa der Welt, weil er nicht schimpfte und ihr auch nie böse war. Sie hatten seit der Begebenheit immer ein ganz besonders inniges Verhältnis. Als er abfuhr, war sie sehr, sehr traurig und musste ihm versprechen, dass sie ihn in Sattenhausen besuchen käme.