Kitabı oku: «Jette», sayfa 4
Die Hühnergeschichte
Eines Tages kam plötzlich Frau Wöppner aus dem Haus und versuchte, ein Huhn zu fangen, das vor Aufregung laut kreischte und gackerte und halb fliegend, halb laufend zu entkommen versuchte. Beinahe hätte sie es gefangen! Das war ein unglaubliches Wettrennen, an dem Jette einfach mitmachen wollte. Das war ein schönes Spiel! Das erinnerte sie plötzlich an Lackners Hühnerhof in Ostpreußen. So lief Jette auch juchzend hinterher, nämlich hinter Frau Nachbarin. Als diese das Huhn nicht packen konnte, drehte sie sich zu Jette um und befahl ihr, nach oben zu gehen.
Nun war ihre Neugier natürlich viel zu groß, als dass sie das tat, was die Bäuerin ihr gesagt hatte! Stattdessen verdrückte sie sich in den Hauseingang und beobachtete das Spiel heimlich von dort aus. Warum wollte sie das Huhn überhaupt fangen? Alles begann von Neuem. Dieses Mal hatte Frau Wöppner Erfolg: Sie nahm es, streichelte es, ging mit ihm unterm Arm zum Misthaufen. Plötzlich drehte sie ihm den Hals einfach um und warf den Kopf auf den Misthaufen! Jette konnte es gar nicht fassen und war so schockiert, dass sie dann doch nach oben zu ihren Großeltern lief und weinte und erzählte, was sie da gerade beobachtet hatte: „Sie hat das Huhn totgemacht! Sie hat das Huhn totgemacht! Und den Kopf hat sie auf den Misthaufen geschmissen!“
Oma nahm sie in den Arm und tröstete sie und erklärte ihr die Hühnergeschichte: „Weißt Du, mein Jettchen, das war kein Spiel. Frau Wöppner hat das Huhn gefangen und ihm den Hals umgedreht, weil sie es sicherlich für ihre große Familie zum Mittagessen kochen will. Man hält sich hier im Dorf Hühner, weil sie Eier legen, die man zum Frühstück und zum Braten und zum Backen braucht, und weil man auch mit dem ganzen Huhn eine wunderbare Suppe kochen kann, die allen schmeckt. Als Du bei uns ankamst, habe ich auch eine schöne Hühnerbrühe mit Nudeln gemacht, die Dir doch auch geschmeckt hat. Nur, ich musste das Hühnchenfleisch hier beim Metzger kaufen, weil wir keine eigenen Hühner halten können. Die würden auch alle durcheinanderlaufen, und wir wüssten nicht, welches Huhn wem gehört.“ - „Aber, Oma, man kann doch bestimmt nicht die Federn mitessen.“ - „Nein, mein Jettchen, sicherlich steht Frau Wöppner nun im Hof und rupft das Hühnchen sauber. Wir gehen jetzt sowieso, dann sehen wir uns die Arbeit einmal an!“ –
So gingen die zwei, Oma mit Jette, in den Hof und schauten Frau Wöppner beim Rupfen zu. Oma hob ein paar Federn auf und zeigte ihrer Enkeltochter unterschiedlich große und erklärte ihr auch, dass man manchmal mit den ganz, ganz feinen Federn Kopfkissen füllen kann, wenn man viele davon sammelt. Dann hob sie die schönsten für Jette auf, bündelte sie und gab ihr das kleine Sträußchen. So machten sie ihren Spaziergang. Jette behielt das Federbüschelchen die gesamte Zeit in der Hand. Sie waren so weich, dass sie immer wieder mit dem kleinen Federbusch über ihre Nase streichelte. Ein so flauschiges Gefühl hatte sie noch nie an ihrer Nase erlebt! Später, als sie wieder zu Hause waren, kitzelte sie auch Opas Nase damit, und er fand es ebenfalls schön. Als Oma bemerkte, dass Jettchen über die schönen Federn den „Hühnermord“ ganz vergessen hatte, band sie alle Federn mit Nähgarn zu einem Sträußchen zusammen: „Kann ich bitte ein Wasserglas als Vase für mein Sträußchen haben? Und ich brauche auch kein Wasser!“ Sie stellte es mitten auf den Tisch.
Später bei den Spaziergängen durchs Dorf und durch die Wälder war Jette stets darauf bedacht, schöne Federn zu finden und zu sammeln. Opa erklärte ihr auch immer, wenn sie mit ihrem neuen Fund zu ihm eilte, zu welchem Vogel oder Federvieh, wie er es nannte, gehörte, welche Feder von einem Flügel stammte, von einem Schwanz oder „nur“ vom Körper. Ihre Lieblingsfedern waren die langen weißen von einem Schwan, die blauweißen von der Stockente und die bunten kurzen von einem Eichelhäher. Faszinierende Gebilde der Natur!
Vor wenigen Jahren (2007) durfte Jette während eines privaten Besuchs bei einem Falkner in Südengland eine Schleiereule streicheln, berühren. Das Gefühl kann sie fast nicht beschreiben; es war nämlich so, als ob sie ein „Nichts“ berührt hätte. Und doch sank ihre Hand ein wenig in den Flaum ein, aber spüren konnte sie kaum etwas. Sie hatte damit gerechnet, dass sie auf ein festes, sehr dichtes Federkleid stoße. Aber da war fast nichts zu erfühlen! Dieses Erlebnis erinnerte sie an die „Hühnergeschichte“ und an Sattenhausen!“
Der Jauchewagen
Auf dem Bauernhof geschah für Jette noch einmal etwas „Unheimliches“. Sie spielte eines Vormittags im Hof mit einem Nachbarjungen in der Sonne Ball. Überraschenderweise fuhr ein Trecker mit einem Jauchewagen als Anhänger in den Hof, und zwei starke Männer sprangen herab. Einen Jauchewagen kannte sie vom Spaziergang übers Feld mit ihrem Opa. Er hatte ihr erklärt, dass der Boden mit Nahrung, mit Jauche versorgt würde, damit die Pflanzen gut wachsen könnten. Düngen nannten die Bauern das. Und Regen allein würde auch nicht helfen! „Weißt Du, Jettchen, das ist so wie mit Omis Blume im Wohnzimmer auf der Fensterbank. Wenn die nicht alle zwei/drei Tage etwas zu trinken bekommt, dann wächst sie nur langsam! Nahrung, also Dünger, braucht die auch alle drei Monate.“
„Die Männer vom Trecker hatten Gummischürzen um und trugen ganz hohe Gummistiefel. Sie schrien uns an, dass wir verschwinden und uns eine Stunde nicht im Hof blicken lassen sollten. Sie machten uns Angst, aber meinem kleinen Freund nicht. Er trudelte nach Hause und rief mir noch zu: „Bis in einer Stunde dann!“ Jette lief voller Schrecken nach oben zu ihren Großeltern und erzählte ihnen, dass da zwei große Männer im Hof mit einem Trecker und Jauchewagen angekommen seien, die sie weggescheucht hätten. Sie verstand das alles nicht; sollte denn jetzt der Hof gedüngt werden, wo doch da nur Schlamm lag? Aber dann nahm sie Opa ans Fenster, und sie beobachteten zusammen, wie die Männer hinter dem Plumpsklo verschwanden. „Siehst Du, nun holen sie den Kübel vom Plumpsklo und leeren den in den Jauchewagen. Dann fahren sie wieder weg zum nächsten Plumpsklo und holen dort die vollen Kübel ab. Und das war alles.“ - „Und warum haben uns die Männer so angeschrien?“ – „Ach, die wollen nur, dass sie nicht bei der Arbeit gestört werden, und dass Ihr Kleinen nicht diese Dreckarbeit seht.“ – Damit war sie zufrieden, verließ das Fenster und schaute Omi zu, wie sie das Mittagessen vorbereitete.
Immer band sie Jette dann schnell eine Schürze um, damit sie helfen konnte. Heute gab es Senfeier, und sie durfte die Eier pellen, die Omi dann halbierte und in die Senfsoße legte. Mmmmh, Senfeier hätte es eigentlich jeden Tag geben können! Die aß sie doch so gerne. Und nun wusste sie auch, wo sie herkamen. Bestimmt von ähnlichen Hühnern wie die, die im Hof immer herumliefen und so nervös nach den Körnern pickten.
Ein neues Röckchen und eine schöne neue Bluse zum Osterfest
Montag vor Ostern nahm Jettes Omi sie mit zur Schneiderin ins Dorf. Sie bekam zum Fest ein neues Röckchen und eine weiße Bluse. Die Schneiderin maß sie aus, sie durfte sogar den Stoff für ihr Röckchen aussuchen: „rote“ Kirschen und „blaue“ Pflaumen mit „grünen“ Blättchen auf weißem Untergrund. Die Bluse bekam „Puffärmelchen“, und nach vier Tagen, am Karfreitag holten sie ihr neues Kostüm ab. Sie durfte es aber erst Ostersonntag anziehen. Da sie es aber nicht aushalten konnte bis Ostern, weil sie es unbedingt noch einmal anziehen wollte, bettelte sie: „Omi, aber der Opa muss doch mein Neues sehen. Ich muss jetzt beides anziehen und ihm zeigen.“ – Opa bewunderte seine Enkelin, nahm sie in die Arme, gab ihr einen dicken Kuss und sagte: „Du bist Ostersonntag die Schönste im ganzen Dorf!“ – „Gehen wir dann auch zusammen spazieren?“ „Natürlich, mein Jettchen“. – Und so konnte sie es kaum erwarten, bis endlich Ostersonntag war. Opa sprach schon seit Tagen von dem Osterlämmchen, das er mit Jettchen zusammen am Himmel sehen würden. „Sehen werden wir es erst Ostersonntag in der Frühe. Und Du musst ganz früh mit mir aufstehen und nach draußen gehen.“
In der Nacht zum Ostersonntag konnte sie kaum schlafen und war voller Erwartung auf die Entdeckung des Osterlämmchens am Himmel und auf den Spaziergang in den neuen „Anziehsachen“! Um sieben Uhr schon standen sie auf, es gab eine heiße Milch, und dann musste sie etwas Warmes anziehen und mit Opa nach draußen in den Hof gehen. Er hielt in der Hand eine handgroße Glasscherbe, die er aus seiner Tasche hervorgezaubert hatte. Dann nahm er ein Streichholz und schwärzte diese Scherbe. Mindestens zehn Streichhölzer verbrauchte er, ehe sie völlig verrußt war. Dann sah er durch sie hindurch gen Sonne und rief: „Ich kann es sehen, das Osterlämmchen! Möchtest Du auch mal gucken?“ Und er hielt ihr die Scherbe vor die Augen. Sie schaute zum Himmel, sah nur kleine Wolken sich bewegen, und das war alles. „Na hast Du das Osterlämmchen schon gesehen?“
„Nein, wo ist es denn? Ich sehe nur Wolken vorüberziehen.“
„Aber das Osterlämmchen steckt ganz in der Sonne. Du musst die Sonne finden, dann siehst Du auch das Osterlämmchen. Und dann ist Ostern!“
Sie suchte die Sonne, fand sie und sah tatsächlich in der Sonne dunklere Schatten, und sie glaubte nun ganz fest, dass das das Osterlämmchen war. „Ich glaub’, ich hab’s gefunden, das Osterlämmchen!“
„Na dann fröhliche Ostern, mein Jettchen!“ Und er nahm sie auf den Arm und gab ihr einen dicken Kuss. „Und nun geh zur Omi und erzähl ihr, dass Du das Osterlämmchen gesehen hast und dass wir jetzt Ostern feiern können.“
Gesagt, getan! Sie warf sich oben in Omis Arme, wünschte ihr „Frohe Ostern“ und erzählte aufgeregt von dem Osterlämmchen. Die Überraschung war groß, der Frühstückstisch war nun richtig gedeckt: In den drei Eierbechern standen drei bunt bemalte Ostereier, und auf dem Tisch lagen als Dekoration ein paar braune Eierschalen verstreut. Nach dem Frühstück machten sie den versprochenen Osterspaziergang. Es war schon wunderschön warm, und Jette konnte ihr neues Röckchen und die neue Bluse anziehen und auch die weißen Söckchen. Sie sprang die Treppe hinunter in den Hof, drehte sich, damit das Röckchen flog und wartete, bis Omi und Opa auch herunterkamen. Frau Wöppner war die Erste, die sie bewunderte: „Was siehst Du heute hübsch aus!“
Omi und Opa schauten ganz stolz auf Jette, während sie hüpfend zwischen ihnen die Dorfstraße hinaufging. Und immer wieder von Bekannten hörten sie: „Hast Du ein schönes Röckchen an. Ist das neu? Dreh dich doch mal im Kreis.“
Und genauso machte sie es – auf Wunsch. Alle riefen sich gegenseitig „Fröhliche Ostern!“ zu. Das war die besondere Begrüßung allüberall an den beiden Osterfeiertagen, ob man sich kannte oder nicht. Jette wollte bis zum Ende des Dorfes spazieren, damit alle sie auch sehen und bewundern konnten. Am Ende des Dorfes und der Dorfstraße lag ein großer Ententeich, dessen Oberfläche völlig mit Entengrün bedeckt war, und auf dem drei, vier Enten herumschwammen und immer wieder mit ihrem Köpfchen durch das Grün ins Wasser tauchten. Wie sie da überhaupt durchpaddeln konnten, begriff Jette gar nicht richtig. „Warum bleiben sie nicht stecken? Das ist doch da so dicht!“
Sie wollte sehen, wie weit das grüne Zeug reichte. Bis zum Rand? Neugierig sprang sie vor, übersah die Stufe der Teichumrandung und Platsch fiel sie in den grünen Sumpf. „Mein neuer Rock! Mein neuer Rock!“, und sie weinte, während Omi und Opa sie aus dem gar nicht so tiefen Teich zogen. Sie sah aus wie eine kleine Meerjungfrau, von der Taille abwärts mit Entengrün „verziert“! Omi und Opa trösteten sie: „Das können wir alles waschen, und morgen ist der Rock genauso schön wie heute Morgen.“
Sie schlugen beide mit den Händen das Entengrün von ihrem Rock, wrangen ihn an beiden Seiten aus. Aber nun kam das Schlimmste: Ihre kalten Füße merkte sie nicht; ihre Beinchen hatte Opa mit seinem Taschentuch ein bisschen abgetrocknet, aber sie mussten ja durchs ganze Dorf zurück nach Hause gehen. Ihre Söckchen und Schuhe waren so nass und so kalt! Dann begann der Spießrutenlauf: „Aber Jettchen, was ist denn da passiert?“ Diese Frage hörte sie alle fünf Minuten und schämte sich zu Tode. Aber weinen tat sie nicht mehr, denn Opa hatte ihr noch am Teich gesagt: „Tränen zeigen wir niemandem. Genauso fröhlich, wie wir hierher spaziert sind, gehen wir auch wieder zurück! Mit Lachen und guter Miene zum bösen Spiel kommen wir über dieses kleine Pech ganz schnell hinweg.“
War Jettes Traum von Ostern im neuen Röckchen in den Ententeich gefallen? Aber Omi rettete sie und ihr Röckchen, wusch und bügelte es noch am selben Nachmittag, und so sah es am Ostermontag genauso hübsch aus wie am Morgen des Ostersonntags. Nur ihre mit Zeitungspapier ausgestopften Schuhe mussten noch ein paar Tage in der Sonne stehen und trocknen!
Bald schon waren dann ihre Ferien bei Omi und Opa in Sattenhausen zu Ende. Es war ihr dort in Sattenhausen so gut gegangen! Kein Asthma, keine Atemnot, keine Medikamente, die sie einnehmen musste.
Genauso wie sie hingefahren war, ging es nach vier Wochen wieder zurück nach Werdohl. Wieder mit der Adressenkarte um den Hals und der Übergabe an die verschiedenen Fahrdienstleiter fuhr sie die einzelnen Strecken im jeweiligen Dienstabteil zurück. Als sie zu Hause ihr Köfferchen auspackte, bewunderte Mutti ihre neuen „Anziehsachen“, und Schwesterchen Marisa wollte auch unbedingt sofort zu Oma und Opa fahren, weil sie ja dann auch ein neues Röckchen und eine neue Bluse von ihnen als Geschenk erwarten konnte!
Herr Jülich kehrt aus der Gefangenschaft zurück
Als Herr Jülich nach Hause kam, waren sie alle überglücklich. Aber in dem kleinen Zimmer hatten die vier Jülichs nicht alle Platz zum Schlafen. So wurde Marisa oder Jette wieder wie bei Opas Rückkehr ausquartiert. Was bis dahin eine lustige Abwechslung für Jette und Marisa war, wurde nun eine stete Einrichtung. Alles war ihnen recht, solange ihr Papa nur bei ihnen blieb! Marisa nächtigte am liebsten bei Rehms. Der Grund dafür war, dass dort im Haus unten ein Mädchen in ihrem Alter wohnte, Heide Bakzies. Die gefiel ihr, weil sie gern mit ihr spielte und sie die gleichen Vorlieben hatte: Verkleiden und Tanzen!
Herr Jülich machte sich sofort auf den Weg zum Werdohler Amt: Er suchte nicht nur eine Wohnung für seine Familie, sondern bemühte sich auch um eine Lehrerstelle an der Gemeinschaftsschule, der „Roten Schule“. Dort bekam er eine Stelle, aber eine Wohnung konnte er nicht besorgen.
Da es in Werdohl eine katholische Schule und eine Gemeinschaftsschule gab, aber nur ein einziges Gebäude, wurde der Unterricht in Schichten gehalten: 14 Tage lang gingen die katholischen Kinder morgens in die Schule und die Gemeinschaftsschüler mit einem sehr großen Anteil von evangelischen Kindern nachmittags und umgekehrt.
Die größte Umstellung im alltäglichen Leben war sicherlich die für Mutti Jülich. Nun musste sie in einem Zimmer für vier Personen wirtschaften, d. h. kochen, nähen, die Betten so machen, dass sie noch Platz zum Arbeiten am Tisch hatte. Fließendes Wasser gab es nur aus dem gegenüberliegenden Badezimmer, das nicht nur von ihnen benutzt wurde, sondern auch von Tante Friedchen mit ihren drei Kindern: Christa, Dieter und Detlef. Jettes Papa arbeitete ebenfalls am großen Küchentisch an seinen Vorbereitungen für den Unterricht. Sie saß meist dabei und malte oder tat so, als ob sie auch arbeitete. Sie war von ihm fasziniert und wollte auf jeden Fall auch solch eine Arbeit machen wie er. Sie vergötterte ihn!
Die Schule war zu Fuß eine halbe Stunde vom Bausenberg entfernt. Er ging in der ersten Zeit mit seiner Aktentasche unterm Arm los und kam nach 5-6 Stunden wieder. Er spielte auch ab und zu seine Geige und sang sehr viel mit den beiden Mädchen. Er hörte Radio, und Mutti und auch Papa Jülich waren darauf besessen, keine Nachrichten auszulassen.
Papa Jülich interessierte der Schulfunk sehr. Besonders wenn er nachmittags unterrichtete, hörte er ihn vormittags während seiner Vorbereitungen. Mutti und Papa Jülich zankten sich manchmal, weil Mutti den Tisch fürs Kochen bzw. Vorbereitungen fürs Essen brauchte und Papa für seine Akten und Bücher und Malereien. Er malte wunderschöne Bilder für den Unterricht als Anschauungsmaterial … Und Jettchen konnte überhaupt nicht malen! Sie konnte nur „Das ist das Haus vom Nikolaus“ aus einfachen Strichen zeichnen, aber kein einziges Huhn aufs Papier bringen. Aber auf die Schule freute sie sich schon so sehr; denn dann konnte sie mit ihrem Papa zusammen dorthin gehen.
Der wiedergefundene Freund
Eines Tages saß Herr Jülich auch wieder am Tisch und arbeitete. Sein Unterricht fand nachmittags statt. Es war gegen 10 Uhr, und Jette freute sich auch auf den Schulfunk. Und da hörte sie schon die Musik: „Der Vogelfänger bin ich ja …“
„Diese Musik ist von einem berühmten Komponisten! Mozart hat sie geschrieben“, hatte ihr Papa einmal erzählt, als sie schon am Tisch saßen und „arbeiteten“. Mit dieser Musik als Einleitung begann der Schulfunk damals! Sie liebte die Sendung, 1. weil ihr Papa dann neben ihr saß und 2. weil immer etwas Interessantes zu hören war. Es wurde von Tieren erzählt, aus einer kleinen Stadt berichtet oder etwas Heimatkundliches besprochen. Nach zwei Stunden war das Programm immer zu Ende, wurde aber am Nachmittag noch einmal genauso wie am Vormittag ab 14.00 Uhr wiederholt. Außerdem gab es Englisch-Unterricht, dem Herr Jülich zuhörte und Jette auch, gebannt, obwohl sie nichts verstand! Um 12:00 Uhr schlossen sich an jedem Tag die Nachrichten an. Dann mussten Mutti und Jette und auch Marisa sehr leise sein; denn da hörte Jettes Papa ganz genau zu.
Und genau so war es an dem besonderen Tag auch. Nach den Nachrichten packten sie immer ihre Sachen zusammen, damit Mutti den Tisch decken konnte. Jette half ihr dabei. Plötzlich hielt ihr Papa inne und lauschte angestrengt dem Gesang, der aus dem Radio kam. „Hört alle gut zu, ich glaube, ich kenne ihn …, der da singt! Es könnte mein Freund sein, mit dem ich zusammen in der Kriegsgefangenschaft in Italien musiziert habe! Tschiepschen, hör auch Du gut zu! Ich kenne die Stimme. Das ist Dietrich! Er singt Die Forelle von Schubert. Sie blieben alle wie angewurzelt stehen und wagten nicht einmal, sich überhaupt zu bewegen. Es war wie in dem Spiel „Figurenwerfen“. Papa legte beide Finger auf seine Lippen, als der Gesang zu Ende war. „Das war die Stimme des jungen, vielversprechenden Tenors Dietrich Fischer-Dieskau“, erklärte der Ansager. Papa Jülich klatschte in die Hände und freute sich so sehr, dass er seine Frau in den Arm nahm und ihr einen Kuss gab. „Genau das Lied von Schubert hatte er auch bei den Amerikanern vorgesungen! Hab’ ich doch gesagt, dass ich ihn kenne! Wir haben so oft, fast jeden Tag in Italien zusammen musiziert. Ich habe ihn beim Singen mit meiner Geige begleitet. Manchmal war auch ein Klavierspieler dabei, aber sie hatten nicht immer einen. Die amerikanischen Offiziere wollten uns dauernd hören. Sie sagten damals alle zu Dietrich: „Du wirst noch einmal ein ganz begnadeter Sänger, lieber Dietrich, und berühmt!“ Und … „Da haben wir’s! Das war Dietrich! Das ist Dietrich!“, rief Herr Jülich und war so glücklich.
Tatsächlich war es der später weltberühmt gewordene Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, der zehn Jahre jünger als Jettes Papa war und mit ihm zusammen in Italien von den Amerikanern gefangen genommen und dort im Lager gehalten worden war.
„Er kehrte 1946 aus der Gefangenschaft nach Berlin zurück, wo er an der Musikakademie seine Studien, die er bereits 1941 bei Georg Walther begonnen hatte, allerdings bei Hermann Weißenborn wieder aufnahm. Ende 1947 hatte er sein öffentliches Debüt mit Brahms’ Requiem in Badenweiler. Wirklich bekannt wurde er mit Schuberts Winterreise im Radio. Seine Opernaufführungen an der Deutschen Oper Berlin machten ihm seinen Namen und waren das Sprungbrett für internationale Engagements an den großen Opernhäusern im Ausland. Von Mitte 1950 bis Anfang 1980 blieb die Oper sein signifikantester Arbeitsbereich. Aber auch in großen Konzerten, wie zum Beispiel in Bachs und Brahms’ Passionen, wurde sein Bariton immer wieder verpflichtet. Als Freund von Benjamin Britten sang er 1962 in der Kathedrale von Coventry die Uraufführung dessen „War Requiems“.
(Mit freundlicher Genehmigung der Zeitung „The Times“, Ausgabe: 19. Mai 2012, Register = Todesanzeigen. (Artikel von der Autorin übersetzt.)
Jettes Papa hatte natürlich sofort mit dem Rundfunk Kontakt aufgenommen und sich nach Dietrichs Adresse erkundigt und ihn in Berlin besucht. Zu der Zeit, als er mit der berühmten Filmschauspielerin Ruth Leuwerik verheiratet war, kam er die Familie Jülich etwa 1965/66 besuchen. Sicherlich war er auf der Reise zu einem seiner Konzerte.