Kitabı oku: «Jette», sayfa 3
Kriegsende und schwere Jahre danach
Wie wurde das Kriegsende gefeiert? Alle aus dem Haus am Bausenberg und auch die Nachbarn mit ihren Kindern liefen auf die Straße, nahmen sich gegenseitig in den Arm, wollten tanzen, aber taten es dann doch nicht! Unter die Freudentränen mischten sich schnell die „Trauer-Tränen“ der Frauen, deren Ehemänner noch erst nach Hause kommen mussten, um das wirkliche Kriegsende zu bestätigen. Jede Frau tröstete die andere, man jubelte nicht, denn es fehlten zu viele Mitglieder der Familien. Bis auf „Opa Schröder“ lebten in dem Haus drei, manchmal vier junge Frauen, deren Ehemänner irgendwo an der Front kämpften. Im gegenüberliegenden Haus gab es noch zwei junge Frauen mit kleinen Mädchen in Jettes Alter, die nicht einmal wussten, wo ihre Männer kämpften oder ob sie noch lebten. Ihnen blieb nur die Hoffnung, dass sie eines Tages zurückkehren würden. Wer von den Vätern wird wohl zuerst wiederkommen? Welcher wird wohl nie nach Hause kommen?
Frau Jülich, Jette und Marisa lebten weiterhin in dem kleinen Zimmer, in dem sich ihr gesamtes Leben abspielte. Das Ende des Krieges hatte ihr alltägliches Leben nicht verändert. Weiterhin begaben sich die Muttis auf Hamsterfahrten zu Fuß oder mit dem Fahrrad, um Eier, Brot, Gemüse auf den Tisch zu bekommen. Lebensmittel waren äußerst knapp. Ja, sie waren nach Kriegsende eigentlich noch knapper geworden. Außerdem gab es Lebensmittel nur auf Marken. Jeder Person wurden diese Marken durch das Amt zugeteilt, ob Frau, Kind, Oma, Pensionär, Säugling oder Kranker.
„Experten forderten damals eine tägliche Mindestration von rund 2.000 Kalorien, doch in Köln oder Hamburg, Berlin oder Leipzig standen nicht selten nur 1.000, mancherorts sogar nur 800 Kalorien täglich zur Verfügung. Die Menschen hungerten. Der Verlust der Lebensmittelmarken konnte den Tod bedeuten.“
Irgendwann ging ein Geheimtipp von Nachbar zu Nachbar: An einer der metallverarbeitenden Fabriken in Werdohl liegen Schrauben, Nieten und Nägel so einfach auf einem Schuttplatz herum. Tante Friedchen, Tante Anneliese und Jettes Mutti zogen nun erst einmal dorthin und holten sich von dem Weggeworfenen, was sie tragen konnten. Dann machten sie sich am nächsten Tag auf den Weg zu den umliegenden Bauernhöfen, um diese Dinge gegen etwas Essbares einzutauschen.
Wie weit sie unterwegs waren, kann man erst heute begreifen. Es führte die jungen Frauen sogar bis ins Hessische, bis hinter Kassel, auch bis zur Möhnetalsperre, die 58 km weit entfernt von Werdohl lag. Sie kamen nicht nur mit ein paar Eiern, Mais und Gerste zurück, sondern auch mit Erlebnisberichten der umliegenden Bewohner, wie diese 1943 die Bombardierung der Staumauer durch die Briten mit der eigens für Staumauern erfundenen Rollbombe erlebt hatten, wobei 1600 Menschen ums Leben gekommen waren. Erschütternde Berichte, die von den Nazis geheim gehalten worden waren. Als Propaganda jedoch wurde der Wiederaufbau der Staumauer 6 Monate nach der Bombardierung der breiten Bevölkerung mitgeteilt.
Weiterhin waren die Lebensmittel sehr knapp. Mit den erhamsterten bzw. eingetauschten Sachen bereitete Jettes Mutti für alle ein Gersten- und Maisbrot zu. Ach, was schmeckte das schrecklich! Jette und Marisa spuckten es wieder aus; das Gemisch aus Spelzen und Wasser konnten sie einfach nicht schlucken. All die Müh und Arbeit war dahin. Und Mutti schimpfte nicht einmal mit ihnen; sie konnte es selber kaum essen!
Am ergiebigsten jedoch war die Natur ringsum, die alle mit so manchem fütterte. Wenn sie „zum Spaziergang“ in den nahegelegenen Wald gingen und Mutti Jülich einen Korb, eine Schere und ihre Handschuhe mitnahm, wussten die Töchter schon, was es am Abend zu essen gab: Brennnessel Suppe! Damit sie nicht zu viel weinten, weil sie den Kleinen nicht schmeckte, schüttete Mutti Jülich zwei Esslöffel Milch hinzu. Dann war sie nicht so bitter. Viel, viel besser schmeckte die Sauerampfer Suppe! Aber natürlich gab es nicht so viel Sauerampfer wie Brennnesseln, wo sie wohnten! Dort fehlten die feuchten Wiesen in der Nähe. Da mussten sie mit der Brennnessel Suppe vorlieb nehmen. Heute gehört die Sauerampfer Suppe zu den kulinarischen Köstlichkeiten. Hätten sie das zu der Zeit doch schon gewusst!
Nun, Gerste und Hafer landeten von den Hamstertouren in der Waschküche unten im Keller. Das Gemisch wurde dort von den drei Frauen in einer Pfanne geröstet. Die Rösterei konnten die Kinder zwar riechen, aber keinen Reim daraus machen. Sie sollten auch immer „schön“ oben bleiben und spielen. Eines Tages gingen die drei, Frau Jülich und die beiden Frauen Schröder, dann wieder in den Keller. Wurde wohl noch mehr geröstet? Wieder sollten die Kinder fein oben bleiben und spielen. Warum durften sie denn nicht nach unten? Alles war so geheim! Kinder waren einfach dort unten nicht erlaubt! Neugierig waren sie trotzdem! Christa, Dieter und Jette schlichen einmal nach unten und standen vor der angelehnten Waschküchentür und beobachten, wie Tante Anneliese die Kaffeemühle, die sie zwischen ihre Beine geklemmt hatte, heftig drehte und mahlte. War das denn verboten? Was war denn da so spannend dran? Sie sah so aus wie immer, wenn sie mit ihrer vorgebundenen Schürze Kaffee mahlte. Was war denn dabei so geheimnisvoll? Sie konnten es sich einfach nicht erklären! Muckefuck tranken doch alle immer!
Was das Geheimnis um die Rösterei im Keller war, konnte Jette bis heute niemand beantworten. Warum war die verboten? Warum durften die Kinder sie nicht sehen?
Jettes Asthma
Nicht lange nach der Abfahrt des Großvaters nach Sattenhausen begann für Jette gesundheitlich die schreckliche Zeit des Asthmas. War seine Abreise der Grund der Krankheit? Sie wachte eines Morgens auf, konnte nicht atmen und rief und weinte nach ihrer Mutti, die sie in den Arm nahm und tröstete und sie sofort zu Doktor Schaab brachte, der diese Krankheit dann feststellte. Außerdem sagte er Frau Jülich, dass das Kind unterernährt sei und verschrieb zusätzliche Nahrungsmittel. Sobald sie nur fünfzig Schritte tat, konnte sie nicht mehr atmen, und es pfiff in ihrem Brustkasten, wie kleine Orgelpfeifen. Sie zog immer die Schultern hoch, um wenigstens beim Einatmen ein bisschen Luft zu bekommen. So „lief“ sie fast den ganzen Tag mit hochgezogenen Schultern herum. Damit sie überhaupt zusammen ein paar schöne Spaziergänge machen konnten, setzte Frau Jülich ihr Töchterchen in einen Kindersportwagen und nahm sie so mit. Die arme Jette schämte sich unendlich, dass sie (4 1/2J.) im Kinderwagen saß und die kleine Schwester Marisa (2 1/2J.) neben ihr hersprang. Mutter und Ärzte versuchten alles, um ihr zu helfen. Alle drei Tage fuhr Frau Jülich sie zum Arzt. (Nicht im Auto, sondern im Kinderwagen! Niemand hatte zu der Zeit ein Auto in der Straße, nur der Bürgermeister!) Nach 14 Tagen schickte der Hausarzt Mutter und Töchter zum Hals-Nasen-Ohrenarzt, Dr. Böllhoff. Bei Jette sowie Marisa stellte er Wucherungen/Polypen fest, die natürlich im Werdohler Krankenhaus operiert werden mussten.
Für Jette war die Operation ein Trauma, für die kleine Schwester war die gesamte Angelegenheit sehr, sehr spannend. Weiter nichts! Jette tat der Hals noch tagelang weh, und sie lag in ihrem Bett und wollte „von nichts etwas“ wissen. Nicht einmal Märchen oder andere Geschichten wollte sie hören. Marisa spielte nach 2 Tagen schon wieder draußen, während Jette blass im Armsessel lag, die Ruhe suchte. Warum tat es ihr bloß so weh und Marisa nicht? Die kleine Jette verstand die Welt nicht mehr. Einige Wochen später, nachdem auch sie die Operation vergessen hatte, mussten sie wieder zu Dr. Schaab in die Sprechstunde, weil ihr Asthma einfach nicht aufhören wollte. Er hatte in seiner Praxis eine völlig neue Methode, um Keuchhusten und Asthma bei Kindern zu heilen. Er schlug als Behandlung für Jette den Aufenthalt in „seiner“ Klimakammer vor, die er neu erworben hatte. In der Druckkammer wurde Höhenluft wie in einem Hochgebirge erzeugt. Durch diese Luftveränderung sollte sie nun geheilt werden, ohne überhaupt Medizin zu nehmen.
Es sah darin so aus wie in einem ganz „klitze-kleinen“ Wohnzimmer. Auf der Bank fanden die beiden Schwestern genau nebeneinander Platz. Die beiden? Ja! Um die Große nicht alleine in dieser Röhre sitzen zu lassen, setzte ihre Mutti Marisa dazu: „Das kann Marisa auch nur guttun“, sagte die Mutti und gab Jette ein Bilderbuch mit, das sie sich mit Marisa zusammen ansehen konnte, um die Zeit von einer halben Stunde zu vertreiben. Wenn sich die runde Druckkammertür hinter ihnen schloss, winkte Mutti ihnen von draußen. Sie saß bei den ersten Sitzungen vor der Röhre und zwinkerte ihnen dann und wann zu. Nach drei Sitzungen schon fühlten die Mädchen sich sicher, und sie ging aus Platzmangel davor zurück ins Wartezimmer.
Diese Behandlung hatte Jette ein wenig Erleichterung gebracht, und sie konnte wieder ohne Muttis Hilfe spazieren gehen, auf dem Bausenberg spielen und mit Marisa ein wenig herumtollen. Aber „ihr“ Asthma war immer noch da!
Frau Jülich war immer auf die Gesundheit ihrer Töchter bedacht, und als Jette gar nicht aufhörte, von Opa und einem Besuch bei ihm zu sprechen, fasste Frau Jülich plötzlich den Entschluss, Jette nach Sattenhausen fahren zu lassen. „Diese Luftveränderung wird dir bestimmt auch guttun! Und auf dem Land bekommst du vielleicht auch bessere Milch! Und mehr zu essen!“
15 Stunden allein mit dem Zug von Werdohl nach Sattenhausen – im zarten Alter von 5 Jahren, 1946
Nun, auf die Fahrt nach und auf den Besuch in Sattenhausen, wie Jette es Opa versprochen hatte, brauchte sie also gar nicht so lange zu warten. Mit 5 Jahren, also 1946, wurde sie nach Sattenhausen geschickt. Ja, richtig gelesen! Geschickt! Heute kann es gewiss niemand begreifen, dass Frau Jülich sie allein mit der Bahn von Werdohl nach Sattenhausen fahren ließ. Sie war noch nicht in der Schule, sie konnte also weder lesen noch schreiben. An die Jahreszeit erinnert Jette sich sehr wohl: Auf dem Land wurde Heu eingefahren, und bei der Kartoffelernte war sie immer noch in Sattenhausen; sie half nämlich fleißig mit!
Die Reise von Werdohl nach Sattenhausen, für die man heute mit dem Auto knapp 3 Stunden benötigt, mit der Bahn 5 1/2, hatte sie damals mit dem Zug in mehr als 15 Stunden gemacht, mutterseelenallein mit einem kleinen Koffer an der Hand. Warum fuhr Jette allein? Wie sah die Fahrt aus? Ihre Mutti und ihr Opa hatten sich sicherlich schriftlich verabredet, dass sie an einem bestimmten Tag mit der Bahn von Werdohl nach Wöllmarshausen fahren sollte. Das war der Bahnhof, an dem die Endstation für die „Bimmelbahn“ von Göttingen nach Sattenhausen lag. Auf dem Land gab es weit mehr zu essen als in dem kleinen Werdohl, wo alle noch hamstern gingen. Außerdem war Jettes Papa inzwischen nach Hause gekommen, so dass die Platznot in dem einzigen Zimmer doch sehr groß war und entweder Marisa oder Jette gut verreisen konnten, um dem entgegenzuarbeiten.
So machten sie sich im Morgengrauen in Werdohl auf den Weg zum Bahnhof. Jette erhielt ein Pappschild an einem Bindfaden um den Hals gehängt, auf dem ihr Name, ihre Adresse und der Ankunftsbahnhof standen. Dann wurde sie dem Schaffner übergeben, der sie mit in sein Dienstwagenabteil steigen ließ. Nicht wirklich steigen, denn sie wurde einfach dort hineingehoben.
Für die heutigen Verhältnisse unvorstellbar! Das Vertrauen in die Bahn und deren Angestellte durch den Beruf des Großvaters (Reichsbahnobersekretär) musste bei Frau Jülich und Opa selbst so groß gewesen sein, dass sie Jette, das kleine Mädchen von 5 Jahren, allein, ganz allein auf die lange und weite Reise schicken konnten.
So saß Jette also allein auf der Holzbank im Dienstwagenabteil, drückte sich die Nase am Fenster platt und schaute sich, als wenn es die normalste Geschichte der Welt war, die vorbeihuschenden Felder, Häuser, Bahnhöfe an, hörte die Trillerpfeifen, dann das Stampfen und Zischen der Dampflokomotive und wartete immer wieder erneut auf die Ankunft des Fahrdienstleiters, der ab und zu mit ihr sprach, sie dann und wann neckte und manchmal nach den Haltestellen an größeren Bahnhöfen zu ihr ins Abteil stieg und sich auf die Bank gegenüber setzte. Nach etwa 2 Stunden kamen sie in Hagen an. Dort wurde sie mitsamt ihrem Köfferchen von eben diesem Fahrdienstleiter aus dem Abteil gehoben und einem neuen Fahrdienstleiter übergeben. Der las die Pappkarte, die sie um den Hals trug, versicherte sich, dass er der „richtige Mann für sie“ war, nahm sie an die Hand und auf den nächsten Bahnsteig mit, trug sogar noch ihr Köfferchen. Angst hatte Jette überhaupt nicht, denn Mutti hatte ihr noch gesagt, dass sie nur mit dem Beamten mitgehen dürfe, der den breiten roten Gürtel wie eine Schärpe trüge, sowie eine rote Dienstmütze auf dem Kopf! Immer begleiteten sie nur solche Männer. Also war alles in Ordnung. Und die Freude, ihren geliebten Opa bald wieder zu sehen, überdeckte alle Zweifel oder Beklemmungen, mit völlig fremden Menschen mitzugehen.
Ja, sie hatte gar keine! Völlig furchtlos und bedenkenfrei lief sie an der Hand des Schaffners zum nächsten Zug und Bahnsteig, als ob er der beste „Onkel“ der Welt wäre. – Von Hagen ging’s nach Kassel. „Das ist die längste Fahrt zwischen den Umsteigebahnhöfen“, meinte der Fahrdienstleiter. Und er nahm sein riesiges Buch von unterm Arm und schlug es auf.
„Hier, das ist das Kursbuch, das die An- und Abfahrtzeiten der Züge zeigt, siehst Du?“, erklärte er ihr kurz nach Hagen. Aber sie verstand nichts. Jette konnte weder lesen noch schreiben. „Bis wir in Kassel ankommen, müssen wir an diesen vielen Bahnhöfen anhalten.“ Und er zeigte ihr die lange Liste im Kursbuch. „Und warum müssen Sie immer aussteigen?“, fragte sie verwundert. „Nun, ich muss an jedem Bahnsteig als Erster aus dem Zug springen und zusehen, dass alle Menschen gut aus- und einsteigen. Wenn dann alle eingestiegen sind, rufe ich: Türen bitte schließen! Dann halte ich diese grünweiße Kelle hoch und pfeife auf meiner Trillerpfeife. Das ist dann das Zeichen für den Lokomotivführer, dass er abfahren kann. Wenn der Zug gerade anfährt, springe ich hier wieder hinein zu Dir, und dann geht es zum nächsten Bahnhof. Manchmal muss ich auch von außen noch vorher die eine oder andere Tür zuknallen, weil die Leute mit den schweren Koffern das nicht gemacht haben. Wenn Du einmal später allein mit dem Zug fährst, darfst Du aber nie, nie, nie auf einen fahrenden Zug springen. Das muss gelernt sein und ist so gefährlich, hörst Du, kleine Maus? Gefährlich ist das!“
„Und wie Jette sich an diese Worte erinnerte! Aber davon viel später!“
Um die Mittagszeit packte der Fahrdienstleiter eine Stulle (Butterbrot) und einen Apfel aus und fragte Jette, ob sie auch etwas zu essen mithätte, denn jetzt wäre Zeit dazu. „Wenn Du nichts hast, gebe ich Dir von meinem Butterbrot etwas ab. Wir könnten ja teilen!“ -
„Oh ja!“ Die Mutti hatte ihr morgens noch eine kleine Butterbrottasche um den Hals gehängt (Leder, braun), wo sie ihr „Proviant“ (was für ein Wort!) fand. Zu ihrer Freude hatte sie auch einen Apfel dabei. „Wir brauchen nur die Stulle zu teilen, einen Apfel habe ich auch!“ Sie war äußerst stolz, dass sie dem netten Mann mit der roten Schärpe eine Hälfte von ihrem Brot abgeben konnte. Und die Hälfte von seinem Butterbrot schmeckte so anders! Das war das Brot. Solches Brot hatte Jette noch nie gesehen: voller Körner! Am liebsten wollte sie sie alle ausspucken. Aber das ging nicht! Vielleicht wäre er dann böse geworden?
Die großen Umsteigebahnhöfe hat sie sich bis zum heutigen Tag gemerkt. In Kassel „wurde“ sie dann wieder umgestiegen, und es ging nach Göttingen, wo die Bahn für sie endete. Damit war die Reise aber noch nicht zu Ende! Sie wurde dort in einen Bus gesetzt, der sie nach Wöllmarshausen brachte, wo für sie endlich (!) die Endstation war. Hier sollte auch ihr Opa stehen und sie in Empfang nehmen.
Sie erinnert sich gut, dass es die Endstation Wöllmarshausen war, weil der Name sie damals an Wölfe erinnerte. Nun, inzwischen war es dunkel geworden, Nacht. Sie war heute im Morgengrauen losgefahren, allein, und jetzt war es Abend und schon dunkel! Ob da wohl auch Wölfe in Wöllmarshausen herumlungerten?
Eine Bahnfahrt von mindestens 16 Stunden lag hinter ihr. Was hatte man ihr zugetraut? Wer hatte es ihr zugetraut? Ihre Mutti zusammen mit dem Opa; dass ihr Papa auch an der Entscheidung teilgenommen hatte, weiß sie nicht. War er überhaupt schon aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft aus Italien zurückgekehrt? Auch das weiß sie nicht mehr.
Nun, am anderen Ende der Welt, in Wöllmarshausen, erwartete sie ihr Opa. Sofort entdeckte Jette ihn, als sie der Schaffner aus dem Bus hob. Sie lief ihm entgegen! Er breitete seine Arme aus: „Wer in meine Arme kommt, den hab’ ich lieb!“ Ihr altes Spiel! Sie warf sich hinein. Fast kullerten ihr vor Freude die Tränen über die Backen. Mit einem kleinen Leiterwagen, in den sie von Opa gesetzt wurde, ging ihre Reise dann weiter. Er hüllte sie in Wolldecken ein und unter ihren Po legte er auch noch zur Polsterung ein kleines Kissen. Dann stellte er das Köfferchen an ihre Seite und zog sie bestimmt eine Dreiviertelstunde von Wöllmarshausen nach Sattenhausen hinter sich her. Es ging über Feldwege, und es ruckelte ganz heftig. Manchmal glaubte sie, ihr Kopf würde fast aus dem Wagen fallen! So doll ruckelte es.
Opa hielt die Taschenlampe und leuchtete seinen Weg aus. Und so kamen sie dann an dem unheimlich dunklen Gehöft an. Umrisse von einem Misthaufen konnte Jette gerade noch davor ausmachen, und es stank nach Kuhstall! Wenige Fenster waren erleuchtet und nur ganz schwach der Eingang, eine doppelte Glastür. Opa deutete auf ein Fenster in der oberen Reihe und sagte Jette beim Aussteigen, dass Oma dort oben auf sie wartete. Da kam sie auch schon angelaufen und trug Jette eine Treppe nach oben. „Was bist Du groß geworden, Jettchen! Lass Dich einmal ansehen! Als ich Dich das letzte Mal gesehen habe, warst Du noch so klein!“ Sie tippte ihr in ihren Bauchnabel. Aber das wusste Jette besser, denn sie war immer so groß wie heute!
Bei Omi und Opa auf dem Bauernhof in Sattenhausen
Omi hatte etwas Schönes zu essen gemacht. Es war Kartoffelsalat, und dann gab es noch ein Stückchen Kuchen! Kuchen, abends um 10 Uhr! – „Das ist ja hier wie im Schlaraffenland!“, sagte Jette, und ihre Oma meinte: „Na, na! Aber Kuchen gibt’s bei uns auch nicht jeden Tag! Aber heute ist ein besonderer Tag, weil Jettchen zu Besuch angekommen ist!“ Und dann drückte sie sie noch einmal ganz doll. Danach ging es auch schnell ins Bettchen, das unglaublich kalt war, aber sie kuschelte sich in das blütenweiße Bettzeug, denn sie war so schrecklich müde. Als ihre Oma mit der Wärmflasche, der „Krucken“, kam und sie ihr an die Füße legte, war sie schon fast eingeschlafen. Endlich war sie bei ihrem geliebten Opa!! Am nächsten Morgen schaute sie aus dem Fenster: Die Großeltern wohnten im ersten Stock des Bauernhofes und hatten 3 Zimmer. Sie hatten nur eins in Werdohl für 3 Personen!
Das kleine Dorf Sattenhausen zählte 1945 etwa 500 Einwohner. Nach Kriegsende kamen 300 Flüchtlinge aus Schlesien und Ostpreußen dazu, die über das Flüchtlingslager Helmstedt dorthin verteilt wurden. Es war sicherlich nicht einfach, diese Menschen in dem kleinen Dorf unterzubringen. Opa und Oma waren 3 Zimmer zugewiesen worden. Omas Bruder mit Familie und einer Schwägerin, Tante Emma Dietrich, waren auch in diesem Dörfchen gelandet. (Insgesamt waren 2,5 Millionen Ostpreußen gen Westen geflüchtet.)
Jettes Mit-Abiturientin Dorothee hatte damals erlebt, wie die 500 Flüchtlinge an der Sammelstelle in Sattenhausen den einzelnen Haushalten/Häusern zugewiesen wurden. Ihr Vater war Pfarrer der Gemeinde und wollte die Flüchtlinge kennenlernen und wissen, bei wem sie untergebracht wurden. Er hatte die kleine „Dota“ mitgenommen. Dota hatte Verwandte in Gütersloh, wo sie als Gymnasiastin hingeschickt wurde, um am Wohnort selbst das Gymnasium besuchen zu können. Welche Zufälle es im Leben gibt! Da wurden Flüchtlinge aus Ostpreußen dem kleinen Dorf Sattenhausen als neue Bürger zugeteilt – Omi und Verwandte gehörten dazu –, und die Tochter des Pfarrers dort saß mit Jette zusammen in der Unter- und Oberprima in Gütersloh! Sie stellten dieses fest, als sie einmal zusammen Schularbeiten machten und sich nebenbei über Großeltern unterhielten. Davon aber später!
In dem Bauernhaus gab es „komische“ Dinge! Zum ersten Mal in ihrem Leben musste Jette nun über den Hof auf ein Plumpsklo gehen. Eine Toilette in einem Badezimmer wie am Bausenberg gab es nicht! Hier wuschen sie sich morgens an einer großen weißen Porzellanschüssel, wo sich ihr Opa auch rasierte. Das Wasser schöpfte ihre Oma aus einem riesigen Eimer, und das „Abfallwasser“ goss sie in einen anderen Eimer. Wenn Jette zur Toilette musste, kamen Opa oder Oma immer mit; sie hielten die Tür mit eingeschnitztem Herzchen zu. Opa nahm auch immer Toilettenpapier mit, das auch nicht so war wie in Werdohl! Opa hatte es aus Zeitungspapier geschnitten; viele kleinere Blättchen. Er zeigte ihr, wie sie es rubbeln musste, damit es weicher wurde. Nachts oder abends in der Dunkelheit brauchte sie nicht dorthin zu gehen; denn es gab ein Nachttöpfchen in ihrem Schlafzimmer. Aber, … dort hinein durfte sie nur „Pippi“ machen! Das große „Geschäft“ musste auf dem Plumpsklo erledigt werden, am besten nach dem Mittagessen! In der Nacht kam sie sich immer wie eine Prinzessin vor, wenn sie auf dem „Thrönchen“ saß. Oma hatte den schönen Namen für den Nachttopf erfunden!
Erst drei Tage später merkte sie, dass ihr Opa frisches Wasser an einer Pumpe im Hof holte. Manchmal lief Jette einfach neben ihm nach unten und „half“ beim Pumpen. Ach, und wenn er das Wasser hoch in das Zimmer schleppte und dabei stöhnte, dann schimpfte er immer so doll. Das Schimpfwort gefiel ihr so gut, dass sie es bei der ersten Gelegenheit benutzte: „Schockschwere Not!“ Oma stellte sie eines Morgens auf einen kleinen Schemel, weil sie mit ihr einen Kuchen backen wollte. Sie sollte die Margarine und das Ei schön geschmeidig rühren. Das war gar nicht so einfach, und so rief sie beim Rühren mehrmals: „Schockschwere Not!“ - „Na, na, mein Kind, solch eine Not ist das doch nicht! Außerdem macht Kuchenbacken doch Spaß, nicht wahr!“
Im Hinterzimmer gab es ein wundersames Fenster, das auf eine Gasse schaute, die niemand benutzte und nur etwa ein Meter breit war. Diesem Fenster gegenüber lag nur die Hauswand des Nachbarhauses, das gar keine Fenster hatte. Jettes Opa putzte an diesem Fenster die Schuhe, die natürlich oft sehr, sehr matschig waren, wenn sie über den Hof hereinkamen. Die Schuhe zogen sie sofort aus und stellten sie in dem Hinterzimmerchen auf Zeitungspapier zum Trocknen. Morgens dann wurden sie von Opa folgendermaßen geputzt: Durchs geöffnete Fenster bürstete er den getrockneten Lehm einfach in die Gasse. Dann rieb er sie mit Schuhwichse ein, ließ sie ein wenig einwirken und striegelte sie dann mit einer weichen Bürste. Schließlich „wienerte“ er sie mit einem Lappen fein blank. Deshalb gingen die drei immer mit den schönsten und blanksten Schuhen von zu Hause los!
Am Eingang dieses Bauernhofes rechts lag ein großer Misthaufen, auf dem Hühner nervös herumliefen und pickten und auch ein bunter Hahn, der alle morgens durch sein Krähen aufweckte. Jette spielte eigentlich nicht gern auf dem Hof, weil es dort so stank. Aber sie sollte dort immer auf Oma und Opa warten, wenn sie spazieren gehen wollten und sie schon früher als die Großeltern fertig angezogen war.