Kitabı oku: «Arztstrafrecht in der Praxis», sayfa 8

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dd) Empfehlungen, Leitlinien, Richtlinien

78

Aus den vorstehenden Darlegungen folgt, dass die Differenzierung zwischen „Empfehlungen“, die man befolgen könne, „Leitlinien“, die man befolgen solle, und „Richtlinien“, die man befolgen müsse, aus der Sicht des Haftungsrechts unzutreffend ist und keinen irgendwie gearteten Erkenntnisgewinn bringt.[78] Auch in den einschlägigen Gerichtsurteilen werden die Begriffe synonym verwandt.[79]

Zuzugeben ist allerdings, dass rein sprachlich mit dem Begriff „Richtlinie“ mehr Verbindlichkeit gefordert wird als mit dem Begriff „Leitlinie“ und diese wiederum begrifflich mehr Beachtung verlangt als die bloße „Empfehlung“. „Auch innerhalb des rechtlich eigentlich nicht unmittelbar Unverbindlichen gibt es also faktische und gewollte Abstufungen der Verbindlichkeit“[80] bis hin zur Rechtsnormqualität der Richtlinien des GBA. Alle diese Begriffe bedeuten unter dem Blickwinkel der Arzthaftung aber inhaltlich und funktionell dasselbe: Sie sind lediglich, aber auch immerhin, Orientierungshilfen bzw. „deutliche Anhaltspunkte für das gebotene Verhalten“,[81] den medizinischen Standard.

79

Dabei ist zwischen sog. S1-, S2- und S3-Leitlinien zu unterscheiden:[82] Bei der S1-Leitlinie handelt es sich um eine „von einer repräsentativ zusammengesetzten Expertengruppe der Medizinischen Fachgesellschaft im informellen Konsens erarbeitete Empfehlung“[83]. Eine S2-Leitlinie stellt eine in einem formalen Abstimmungsprozess wissenschaftlicher Fachgesellschaften kommentierte Leitlinie dar. Die S3-Leitlinie ist hingegen eine evidenzbasierte Konsensus-Leitlinie auf wissenschaftlicher Grundlage nach systematischer Recherche. Je aktueller, vollständiger und akzeptierter Leitlinien sind, „je mehr sie harmonisierten Verfahrens-, Form- und Qualitätsanforderungen genügen“,[84] je höher der Grad an Evidenz ist, umso mehr spricht dafür, dass diese Leitlinien den medizinischen Standard wiedergeben, so dass ein Abweichen hiervon umso eingehenderer Begründung bedarf. Ein formal anderer Rang ergibt sich aber auch für eine z.B. veraltete S3-Leitlinie nicht.[85]

ee) Klinikinterne Leitlinien

80

Von den nationalen Leitlinien der AWMF sind die klinikinternen Leitlinien, clinical pathways oder SOPs (standard operating procedures), die sog. Behandlungspfade, begrifflich zu trennen. Diese beschreiben als institutionsbezogene Handlungsanweisungen, z.B. für ein Krankenhaus, „den Behandlungsablauf berufsgruppenübergreifend von der Aufnahme bis zur Entlassung, soweit er für die Mehrzahl der Patienten mit der entsprechenden Diagnose zutrifft“, und stellen „die für den Krankenhausaufenthalt anfallenden Leistungen und Ressourcen prozessbezogen“[86] dar. Mit Hilfe solcher Behandlungspfade will man u.a. die Behandlungsplanung im stationären Bereich unter DRG-Bedingungen verbessern und die integrativen Elemente der Leistungserbringung fördern.[87] Dabei sind die grundsätzlichen rechtlichen Gesichtspunkte – Einhaltung des medizinischen Standards, des Wirtschaftlichkeitsgebots, der ärztlichen Therapiefreiheit und des Selbstbestimmungsrechts des Patienten – in gleicher Weise wie bei den vom Gemeinsamen Bundesausschuss oder den Wissenschaftlichen Fachgesellschaften formulierten Richtlinien bzw. Leitlinien zu beachten. Behandlungspfade eines Krankenhauses sind ebenfalls zeitgebunden, einem ständigen Wandel unterworfen und deshalb immer wieder erneuerungs- und aktualisierungsbedürftig.

ff) Zusammenfassung und prozessuale Hinweise

81

Da Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen eine „Verlagerung der Entscheidung von der individuellen auf die kollektive Ebene darstellen“,[88] im Schadensersatzprozess und Strafverfahren gegen den Arzt aber die Besonderheiten des jeweiligen Falles, insbesondere auch die Eigenheiten und der Wille des Patienten zu berücksichtigen sind, bilden die Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen keinen absoluten, sondern nur einen relativen Maßstab zur näheren Bestimmung der „berufsspezifischen“ Sorgfalt im Sinne des Facharztstandards.

Konkret folgt daraus:

82-

86


1.
2.
3.
4.


„Die Leitlinie Brustkrebs-Früherkennung in Deutschland stellt somit, bezugnehmend auf aktuelle Leitliniendefinitionen, einen Empfehlungskorridor dar. Wenn es die individuelle Situation erfordert, ist ein Abweichen von den Empfehlungen nicht nur möglich, sondern notwendig. Die Leitlinie entbindet somit nicht von der ärztlichen Pflicht, im Rahmen des medizinischen Entscheidungsprozesses die jeweilige klinische Situation und die individuellen psychischen, physischen und sozialen Begleitumstände gesondert zu berücksichtigen. Ebenso wenig kann und darf die Leitlinie das Recht auf eine informierte Selbstbestimmung der Frau einschränken“.


Volle Zustimmung verdient daher nach wie vor Laufs mit seiner abschließenden Stellungnahme zur Verbindlichkeit von Leitlinien:




Zur Gesamtproblematik der Leitlinien mit weiteren Nachweisen siehe: Deutsch/Spickhoff Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 362 ff.; Dressler in: FS Geiß, 2000, S. 379 ff.; Elster Ärztliche Leitlinien in der vertraglichen Arzthaftung, 2012 (besprochen von Hart GesR 2013, 317); Frahm et al Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven, MedR 2018, 447; Hart (Hrsg.) Ärztliche Leitlinien im Medizin- und Gesundheitsrecht, 2005; ders. (Hrsg.) Klinische Leitlinien und Recht, 2005; ders. Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualitätssicherung 2000, 65, 66; ders. MedR 1998, 8 ff.; ders. MedR 2000, 1 ff.; Igloffstein Regelwerke für die humanmedizinische Individualbehandlung, 2003; Ihle Leitlinien, Standards und Sozialrecht, 2007; Jorzig/Feifel GesR 2004, 310 ff.; Kollhosser Der Kassenarzt 2001, 40; Laufs in: Berg/Ulsenheimer (Hrsg.), Patientensicherheit, Arzthaftung, Praxis- und Krankenhausorganisation, 2006, S. 253 ff.; Lilie/Bernat/Rosenau (Hrsg.) Standardisierung in der Medizin als Rechtsproblem, 2009; L. Staudt Medizinische Richt- und Leitlinien im Strafrecht, 2012; Stöhr Leitlinien, Richtlinien und ärztliche Haftung, in: FS G. Hirsch, 2008, S. 431; ders. MedR 2010, 214 ff.; Taupitz Bindungswirkung von Standards im Gesundheitswesen, in: Möllers (Hrsg.), Geltung und Faktizität von Standards, 2009, S. 63 ff.; Ulsenheimer Haftungsrechtliche Relevanz von Leitlinien, Der Gynäkologe 2004, 69 ff.; ders. Das Leid mit den Leitlinien, Zentralblatt für Chirurgie 2001, 730; ders. Der Einfluss von Leitlinien auf die stationäre Versorgung, Arzt und Krankenhaus 2001, 11 ff.; ders. Haftungsrechtliche Bedeutung von Leitlinien, Krankenhaushygiene up2date, 2006, 169 ff.; ders. Das Verhältnis von Richtlinien, Leitlinien und Standard, Der Gynäkologe 2013, 345 ff.; Walter Medizinische Leitlinien und Behandlungsfehlerhaftung, GesR 2003, 165 ff.; ders. Spezialisierung und Sorgfaltsstandard im Arzt- und Anwaltshaftungsrecht, 2004, 151, 157 ff.

d) Bestimmung der objektiv gebotenen Sorgfalt aus der Sicht ex ante

87

Was heute Standard ist, kann morgen schon überholt sein. Denn der Standard ist keine rein statische Größe, die gesicherte, abgeschlossene Bereiche umfasst wie z.B. die Gebote der Sterilität oder des blutsparenden und gewebeschonenden Operierens.[98] Der „Standard“ enthält vielmehr eine dynamische Komponente, die von der Entwicklung und dem jeweiligen Fortschritt des Fachgebiets abhängt, also neue Erkenntnisse und Erfahrungen, neue technische Möglichkeiten, z.B. im Bereich der minimal-invasiven Chirurgie, in sich aufnimmt und dadurch in einem fließenden Prozess das Gute besser macht.[99] Die vom Gesetz geforderte „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ verlangt ein ständiges Sichanpassen an Umstände und Gefahren,[100] die fachlichen Standards sind also in dauernder Entwicklung.[101] So wurde z.B. die heute anerkannte Marknagelung bei Frakturen langer Röhrenknochen zum Zeitpunkt ihrer Einführung durch Küntscher im Jahre 1940 als „gefährliche Außenseitermethode“ bezeichnet oder die früher konservative Behandlung von Gelenkfrakturen durch das operative Verfahren abgelöst.[102] Ein anderes Beispiel für das Entstehen eines neuen Standards bietet die wissenschaftliche Diskussion um die Pflicht zur Vornahme der Thromboseprophylaxe bei (an der unteren Extremität) immobilisierten Kranken: Die Ansicht, sie generell ab einem gewissen Alter (oder davon unabhängig) vorzunehmen, wurde zunächst modifiziert: nur dann, wenn zusätzliche dispositionelle Faktoren vorliegen, und schließlich der individuellen Abwägung im Einzelfall überantwortet (so die Empfehlungen zur perioperativen Thromboseprophylaxe vom März 2009).[103]

88

Deshalb kommt es für die Beurteilung des Standards auf die Sicht ex ante[104] an, d.h. auf den Zeitpunkt der Vornahme oder Unterlassung der gebotenen ärztlichen Maßnahme, konkret auf die Frage, wie sich ein gewissenhafter und erfahrener Facharzt derselben Fachrichtung in gleicher Situation, also zur Zeit der Behandlung, verhalten hätte. Gleiches gilt für die Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen der Fachgesellschaften. Wenn es um die Beurteilung eines Geburtsverlaufs und Schadensereignisses aus dem Jahre 1990 geht (das makrosome Kind hatte eine Schulterdystokie und nachfolgend eine Clavikulafraktur nebst Erb'scher Lähmung erlitten), so dürfen nicht – wie fälschlicherweise geschehen – die Mutterschaftsrichtlinien aus dem Jahre 1999, sondern müssen die zum streitgegenständlichen Zeitpunkt gültigen Richtlinien der Begutachtung zugrunde gelegt werden.[105]

89

Es ist grundsätzlich unzulässig, einen ärztlichen Sachverhalt aus der rückblickenden Perspektive ex post zu Ungunsten des Arztes zu beurteilen. Dem Richter wird nicht eine „nachträgliche Diagnose“ des Sachverhalts (ex post), sondern eine „objektiv nachträgliche Prognose“ (ex ante) abverlangt.[106] Später bekannt gewordene Umstände, neue klinische Entwicklungen und Erfahrungen, nachträgliche wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungsergebnisse dürfen den Arzt nicht belasten, können sich aber zu seinen Gunsten auswirken, indem „sie seine therapeutischen Maßnahmen rechtfertigen“.[107] Die verfehlte ex post-Argumentation in Kenntnis späterer Umstände bezeichnet Bockelmann als „Todsünde des Richters“, die mit anderen Todsünden gemein habe, „dass die Versuchung, sie zu begehen, immer groß ist“.[108] Im Nachhinein, rückblickend im Wissen um den Ausgang des Falles, ist es natürlich meist viel leichter zu entscheiden, was man in dieser oder jener Lage hätte tun sollen – und in dieser Position befinden sich Juristen und Sachverständige. „Welche Sorgen und Zweifel aber der Arzt durchmacht, der die Lage meistern soll, ohne den weiteren Verlauf voraussehen zu können, und wie schwierig es ist, das Richtige zu finden, das weiß nur der, der solche Lagen aus eigener Erfahrung kennt“.[109] Den auch jenseits der Medizin bei Gerichten verbreiteten Rückschaufehler zurückzudrängen, stellt eine der bedeutsamsten Aufgaben der strafgerichtlichen Praxis und insbesondere der Verteidigung dar.[110] Dies gilt insbesondere bei besonders schweren Folgen und damit bei § 222 StGB.[111] Die Verteidigung muss das Wissen der Staatsanwaltschaft, des Gerichts und möglichst bereits früh des Sachverständigen um die psychologische Falle des Rückschaufehlers mehren, um die Beurteilenden zu sensibilisieren; argumentativen Rekursen auf den eingetretenen Schaden muss die Verteidigung kritisch und akribisch nachgehen.[112]

e) Grundsatz der Methodenfreiheit

aa) Therapiefreiheit und medizinischer Fortschritt

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Gibt es mehrere medizinisch anerkannte Heilmethoden oder haben sich noch keine Standard-Behandlungsregeln durchgesetzt, geht ein „Schulenstreit“ nicht zu Lasten des behandelnden Arztes, vielmehr hat die Judikatur stets den Grundsatz der Therapiefreiheit als notwendiges Korrelat des medizinischen Fortschritts anerkannt und damit dem Arzt in medizinischen Fragen einen gewissen Freiraum eingeräumt. Schon in einer frühen Entscheidung des Reichsgerichts lesen wir:

„Die Kurierfreiheit gilt – vorbehaltlich der sondergesetzlichen Ausnahmen – grundsätzlich für Krankheiten aller Art, auch für schwere Krankheiten, ferner für ernst gemeinte – nicht auf Schwindel hinauslaufende – Heilverfahren aller Art; die allgemeinen oder weitaus überwiegend anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst genießen grundsätzlich keine Vorzugsstellung vor dem von der Wissenschaft abgelehnten Heilverfahren ärztlicher Außenseiter oder nichtärztlicher Heilbehandler“. [113]

Auch der Bundesgerichtshof ist dieser Linie gefolgt. Wörtlich heißt es u.a. in einem Urteil aus dem Jahre 1991:[114]

„Die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen und sogar ausgesprochen paraärztlicher Behandlungsformen ist rechtlich grundsätzlich erlaubt. Es kann dahingestellt bleiben, ob dies schon deswegen der Fall sein muss, weil sich eine Beschränkung der Methodenfreiheit aus Rechtsgründen als Hemmnis des medizinischen Fortschritts bzw. als Stillstand der Medizin[115] darstellen würde“.

Jedenfalls aber folgt dies aus dem „Selbstbestimmungsrecht eines um die Tragweite seiner Entscheidung wissenden Patienten“. Denn da dieser das Recht hat, „jede nicht gegen die guten Sitten verstoßende Behandlungsmethode zu wählen, kann aus dem Umstand, dass der Heilbehandler den Bereich der Schulmedizin verlassen hat, nicht von vornherein auf einen Behandlungsfehler geschlossen werden“.

bb) Ärztliche Verantwortung und Selbstbestimmung des Patienten

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Die Freiheit begründeter Methodenwahl im Einzelfall ist „unerlässliche Voraussetzung für eine sachverständige, wagnisbereite und verantwortungsbewusste ärztliche Berufsausübung“,[116] „ein Grundpfeiler des ärztlichen Dienstes“.[117] Deshalb darf sie auch der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) nicht einschränken.[118] Die Therapiefreiheit „erlaubt dem Arzt, unabhängig von der Fessel normierender Vorschriften, nach pflichtgemäßem und gewissenhaftem Ermessen im Einzelfall mit seinen Eigenheiten diejenigen medizinischen Maßnahmen zu wählen, die nach seiner Überzeugung unter den gegebenen Umständen den größtmöglichen Nutzen für den aufgeklärt einwilligenden Patienten erwarten lassen“.[119] Drei Elemente sind somit für die Therapiefreiheit konstitutiv: Der Arzt entscheidet über das „Ob“ der Behandlung, er darf dabei nicht zu einer seinem Wissen widersprechenden Methode oder zu einer bestimmten Arzneimitteltherapie gezwungen werden, und es liegt in seiner Verantwortung, über das ihm als geeignet erscheinende diagnostische oder therapeutische Vorgehen zu befinden.[120]

Gleichwohl gibt auch die Therapiefreiheit dem Arzt kein Recht, mit der konkret für richtig erachteten Methode auf den Körper des Patienten zuzugreifen. Er muss nach wie vor grundsätzlich eine Einwilligung nach den §§ 630d und 630e BGB auf der Basis einer Patientenaufklärung einholen. Und diese muss jedenfalls zivilrechtlich gem. § 630e Abs. 1 S. 3 BGB auf Alternativen zur Maßnahme hinweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können. All dies gilt insbesondere und mit erheblichen Anforderungen im Detail, wenn eine Neuland- bzw. Außenseitermethode Anwendung finden soll (siehe auch näher Rn. 404 ff.).[121]

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