Kitabı oku: «Mehrsprachigkeit und das Politische», sayfa 12

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2 Gohar Markosjan-Käsper Markosjan-Käsper, Gohar als Autorin transkulturellerTranskulturalitättranskulturell Literatur

Wenn wir über Literatur sprechen, die von Menschen mit MigrationshintergrundMigrant/inMigrationshintergrund geschaffen wurde, denken wir an die früheren Begriffe wie „Gastarbeiterliteratur“, „littérature des immigrations“, „littérature des Beurs“, „Black British Literature“ oder an jüngere Termini wie „HybriditätHybridität“, „transkulturelleTranskulturalitättranskulturell Literatur“ oder gar an „neue WeltliteraturWeltliteratur“ (Glesener 2016). Implizit wird dabei wohl an Literatur in den großen Weltsprachen gedacht. Viel weniger hat die globale Forschung ihre Aufmerksamkeit den kleineren Sprachen und Literaturen gewidmet. Es mag vielleicht überraschend sein, doch hat auch die Literatur in EstlandEstland/Estonia eine sehr lange Tradition des multikulturellen Schreibens, denn die estnischsprachige literarische Kultur nahm ihren Anfang im Kontaktfeld von mehreren Sprachen und Kulturen (Heero 2019: 144–146).

Neben der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig (Lukas 2008: 23–32) hat auch die russischsprachige Literatur in EstlandEstland/Estonia (estn. vene kirjandus Eestis) eine lange Tradition. In der estnischenEstland/Estoniaestnisch Literaturgeschichtsschreibung wird ihr Beginn im Jahr 1918 angesetzt, das die Gründung der EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian Republik markiert. Die russischsprachige Literatur, die davor geschaffen wurde, zählt man im Allgemeinen zu der Literatur des RussischenRusslandRussisch/Russian Imperiums; bei diesen literarischen Texten ist kaum ein spezifischer EstlandEstland/Estonia-Bezug festzustellen (Belobrovtseva 2018: 102). Es sollte vermerkt werden, dass die Geschichte dieser Literatur eng mit der Geschichte der MigrationMigrant/inMigration aus RusslandRussland (später aus den Gebieten der SowjetunionSowjetunion) verbunden (ebd.: 110–118)1 und das Schaffen der russischenRusslandrussisch Literaten in EstlandEstland/Estonia oft den russischenRusslandrussisch Literaturtraditionen verpflichtet ist. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat man angefangen, diese Literatur als ein Beispiel des Schreibens zwischen den Sprachen und Kulturen zu kontextualisieren (ebd.: 119). Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohars Werk Helena, in dem die MigrationserfahrungMigrant/inMigrationserfahrung einer Frau in EstlandEstland/Estonia der 1980er und 1990er Jahren beschrieben wird, lässt sich daher als Beispiel transkulturellenTranskulturalitättranskulturell Schrifttums darstellen. Es soll dabei aber betont werden, dass die Geschehnisse dieses Romans aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers dargestellt werden. Die Heldin erscheint wie ein Untersuchungsobjekt, an dem ein Versuch durchgeführt wird, um die Frage zu beantworten, ob sie in einer neuen Kultur zurechtkommt oder nicht. Dieser Versuch wird von dem Erzähler genau beobachtet, (vergleichend) analysiert und teilweise humorvoll kommentiert.

Als transkulturelleTranskulturalitättranskulturell Literatur wird im Kontext dieser Studie im Allgemeinen das Schaffen der Autoren verstanden, die ihre Werke in einer Sprache verfassen, die nicht ihre MutterspracheMuttersprache/mother tongue ist und die die Erfahrung des kulturellen Anders-Seins reflektieren. In der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft wurden in den 1960er und 1970er Jahren solche Werke als „multi- oder interlinguale Literatur“ bezeichnet, mit der „literarisch ausgestalteten Identitätsproblematik“ als Hauptthema (Baumgärtel 1997: 54). Die Autoren wurden auf der Grundlage eines statischen Identitätskonzepts gerne als Personen dargestellt, die ständig auf der Suche nach ihrer IdentitätIdentität/identity sind und unter dem Leben in der FremdeFremdheitFremde leiden (Amodeo 1996: 42). Diese Thematik ist heute wohl nicht mehr ganz aktuell. Deshalb haben sich auch Begriffe wie Literatur der TranskulturalitätTranskulturalität oder sogar der Transdifferenz durchgesetzt. Diese überwinden die binären Grenzziehungen zwischen den Kulturen und implizieren die Tatsache, dass die zeitgenössischen Kulturen denkbar stark miteinander verbunden und verflochten sind. Präziser noch: Es geht um die wechselseitige Überlagerung von kulturellen Zugehörigkeiten innerhalb der sichtbaren Differenzen. Dabei wird die Differenz nicht aufgehoben, sondern das kulturelle Anderssein wird als etwas Positives hervorgehoben und bewusst gepflegt (Allolio-Näcke u.a. 2005: 27), auch wenn es manchmal von negativen Erfahrungen begleitet und zu Konfrontationen mit den Vertretern anderer Kulturen führen kann.

In der transkulturellenTranskulturalitättranskulturell Literatur werden diese Erfahrungen des Lebens zwischen zwei Kulturen oft thematisiert und es wird der Prozess der Aneignung einer neuen Kultur literarisch analysiert. Diese kulturelle Selbstfindung bzw. Selbstreflexion wird oft auf konkrete Orte bezogen, was auch mit der „Erfahrung des Unterwegsseins“ verbunden sein kann (Heero 2009: 208–209). Tallinn, die estnischeEstland/Estoniaestnisch Hauptstadt, erscheint in Helena anfangs kalt, anonym und einer typischen skandinavischenskandinavisch Großstadt ähnlich. Die Menschen, die dort leben, scheinen an ihrer GegenwartGegenwart zu leiden, sie sind ständig gehindert, ihre Träume oder ihren beruflichen Ehrgeiz auszuleben und gleichzeitig damit beschäftigt, ihren Alltag zu bewältigen (ebd.: 216–217). Auch Helena möchte in Tallinn als Heilmedizinerin praktizieren, kann es aber nicht, denn einerseits beherrscht sie die LandesspracheLandessprache nicht, andererseits gelingt es ihr nicht, in einer kulturell fremdenFremdheitfremd Umgebung ein soziales Netzwerk aufzubauen:

Tatsächlich musste sie mit drei bis vier Patienten im Monat zufrieden sein, und auch diese Zahl besaß die Tendenz, eher rückgängig als wachsend zu sein. Wenn man in ArmenienArmenien einen Menschen kuriert, schickt er zehn neue zu dir, er spricht mit allen darüber, lobt dich mehr als eine Werbeagentur, seine Verwandten, Freunde, Kollegen werden dann geradezu deine Tür einrennen […]. In EstlandEstland/Estonia konntest du eine Leiche auferstehen lassen, und keine Seele hat davon erfahren, die Leiche jedenfalls teilte den anderen diese Nachricht nicht mit, nach der Auferstehung aus dem Grab ging sie am nächsten Tag ruhig zur Arbeit und wenn jemand fragte, wie es ihr gelang, wieder aufzuerstehen, lächelte sie nur geheimnisvoll. (H, 123)

Doch mit der Zeit lernt sie die Schönheit der Tallinner Altstadt und der estnischenEstland/Estoniaestnisch Landschaften zu schätzen. Sie studiert gründlich die Verhaltensmuster von Esten in verschiedenen KommunikationssituationenKommunikation und dank dessen kann sie ihr eigenes Verhalten anpassen und Freundschaften schließen. Das Ende der SowjetunionSowjetunion jedoch und die damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen kann sie schwer verkraften (womit sie das Lebensgefühl von vielen Esten und estnischenEstland/Estoniaestnisch Russen teilt). Von ihrem Gatten, Olev, bekommt sie wenig moralische Unterstützung, und es scheint, dass mit dem Ausbruch der neuen Zeiten auch ihre Liebe erlöscht. Deshalb scheint es für sie logisch und natürlich, zurück zu den Wurzeln zu kehren und in Jerewan nochmals neu anzufangen.

Das Fremdsein als oft behandeltes Thema in der transkulturellenTranskulturalitättranskulturell Literatur kommt auch in Helena mehrmals zur Sprache. So muss Helena in EstlandEstland/Estonia anfangs wiederholt die Ablehnung der Mitbürger erfahren: „Helenas südländisches Aussehen und ihr kurzer Status als Einwohnerin Tallinns erweckten in ihnen kein Vertrauen“ (H, 116). Einmal wird Helena auch fremdenfeindlich beleidigt, indem ein junger Mann in der Warteschlange vordrängelt und ihr und ihrer Freundin „kalt und hochmütig“ sagt: „‚Wer hat denn euch hier eingeladen? Macht, dass ihr in eure Berge zurückgeht!‘“ (H, 7). Etliche Male werden auch kulturelle Vergleiche zwischen ArmenienArmenien und EstlandEstland/Estonia gezogen. So charakterisiert Helena von ihrem kulturellen Standpunkt aus gesehen die estnischenEstland/Estoniaestnisch Frauen als „blass, ausdruckslos, gar hässlich“ und wundert sich, wie diese so einfach einen Mann aus dem Westen finden (H, 81). An einer anderen Stelle beschreibt sie die Esten als „eisig“ und „formell“, sie „gingen im gleichmäßigen RhythmusRhythmus/rhythm, wedelten nicht mit Händen, doch ihre Langsamkeit kompensierten sie mit einem wilden Sprechtempo.“ (H, 72–73) Gleichzeitig bewundert sie das Selbstbewusstsein der Estinnen und die souveräne Art, mit der sie mit Beziehungen umgehen. Ganz bewusst versucht sie, mit ihren „armenischenArmenienarmenisch Vorurteilen“ (H, 82) zu kämpfen. Deshalb möchte Helena nicht nur als Zuschauerin dastehen, sondern sich am estnischenEstland/Estoniaestnisch Leben aktiv beteiligen und auch die estnischeEstland/Estoniaestnisch Sprache lernen. Diese Sprache entpuppt sich aber als schwierig. Des Weiteren entdeckt sie, dass es ihr zwar leicht fällt, etwa unter Kollegen neue Bekanntschaften zu finden, aber es ist für sie als eine eher verschlossene Person schwierig, wirklich tiefe und bedeutende Freundschaften zu schließen (H, 117). Deshalb bleibt sie bis zum Ende ihres Aufenthalts in Tallinn eher Außenseiterin, die das dortige Leben mit innerer Distanz betrachtet. Sie gibt zu, dass sie nach wie vor politischPolitik/politicspolitisch/political interessiert ist, doch betreffen sie die Ereignisse in ArmenienArmenien und RusslandRussland viel näher als die in EstlandEstland/Estonia (H, 105). Gleichzeitig erkennt und akzeptiert sie sowohl ihr kulturelles Anderssein als auch ihre kulturell hybrideHybriditäthybrid IdentitätIdentität/identity: Ihre MutterspracheMuttersprache/mother tongue ist armenischArmenienarmenisch, doch hat sie (wie auch Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar selbst) eine russischeRusslandrussisch Schule besucht und empfindet deshalb RussischRusslandRussisch/Russian als die Sprache des intellektuellen Austausches und des Selbstausdrucks: „Wenn es notwendig war, Gedanken und Überlegungen zu verbalisieren, ging sie unbewusst zur russischenRusslandrussisch Sprache über“ (H, 106). Sie ist sich dessen bewusst, dass die Esten diese Sprache am Ende der sowjetischenSowjetunionsowjetisch/Soviet Okkupation als „die Sprache des Feinds“ empfinden, aber für sie ist RussischRusslandRussisch/Russian Sprechen wie ein „intellektueller Orgasmus“ (H, 107). Vor dem Hintergrund einer anderen Kultur versteht sie auch, dass sie Kosmopolitin ist, die sich für Opernmusik, klassische Literatur, russischesRusslandrussisch Theater und die Philosophie AsiensAsien interessiert. Also kann man behaupten, dass die Heldin nach einem anfänglichen Kulturschock wieder einen Weg zu sich selbst findet und ihr Wesen als Ausdruck eines transdifferenten Daseins akzeptiert.

Dieses Moment des Sich-Anerkennens als Träger von zweien oder mehreren Kulturtraditionen kommt auch in der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig interkulturelleninterkulturell Literatur zur Sprache, Zafer ŞenocakSenocak, Zafer hat diese Empfindung wie folgt formuliert:

Denn seitdem ich DeutscherDeutschlandDeutsche bin, kümmere ich mich viel stärker um mein türkischesTürkeitürkisch Potential und habe aufgehört, darin einen Widerspruch zu sehen. Im Gegenteil: Die Bikulturalität ist ähnlich wie Bisexualität keine Perversion. Sie ist eine völlig legitime Verhaltens- und Lebensweise, von der eine Person nur profitieren kann, wenn sie nicht verstohlen und verschämt gelebt wird, sondern offensiv und selbstbewusst. (ŞenocakŞenocak, Zafer 2011: 90–91)

3 Zur Funktion der MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in Gohar Markosjan-Käsper Markosjan-Käsper, Gohars Romanen „Helena“ und Penelopa

Die hybridenHybriditäthybrid/globalen IdentitätenIdentität/identity können sich in Phänomenen wie (literarischer) MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit und Mehrfach-IdentitätenIdentität/identity manifestieren. Die Mehr- und VielsprachigkeitVielsprachigkeit sollten in diesem Fall als nichts Exotisches, sondern als etwas Natürliches betrachtet werden (Ernst 2019: 92–93). Je nach Bedarf können in einem Text verschiedene Sprachen nebeneinanderstehen. In der jüngeren Forschung benutzt man für solche Texte auch den Begriff „exophoneExophonieexophon/exophonic Literatur“, das ist Literatur, die in einer ZweitspracheZweitsprache geschrieben worden ist, jedoch dennoch Spuren einer ersten Sprache aufweist und diese thematisiert. Dies kann auf rein linguistischer Ebene stattfinden, doch können auch Mittel wie code-switchingcode-switching oder indirekte ÜbersetzungÜbersetzung/translation in der Zweitsprache ganz neue, kreative Räume öffnen und stilistische Register schaffen (Wright 2008: 39–40).

Die Wurzeln einer solchen Betrachtungsweise liegen jedoch wohl bei dem sogenannten postmodernPostmodernepostmodern turn um die 1980er Jahre, der die traditionelle Zeit- und Raumauffassung relativierte. Statt über eindimensionale Assimilationsmodelle sprach man über multidimensionale (darunter auch multilingualeMehrsprachigkeitmultilingual) Bewegungen zwischen Geburtsland und Aufenthaltsland (Jürgenson 2016: 95; Darieva 2007: 78–79). Das heißt, die IdentitätIdentität/identity ist nicht geographisch-kulturell determiniert, sondern oft gebunden an soziale InteraktionInteraktion und an die Bewegung zwischen unterschiedlichen Diskursen (Martinez Guillem 2015: 3–4). So kann die Literatur zu einer Manifestation von verschiedenen Sprachen und Kulturen werden. Dembeck und Parr etwa sehen den Vorteil einer solchen Betrachtungsweise darin, dass man dadurch den (literarischen) Text selbst in den Fokus nimmt und ihn nicht mehr von textexternen Faktoren wie der MigrationserfahrungMigrant/inMigrationserfahrung aus betrachtet (Dembeck/Parr 2017: 9–10). Diese Betrachtungsweise ermöglicht auch, bestimmte Vorurteile oder Erwartungshaltungen, die das Deuten eines Textes (leider) des Öfteren beeinflussen, beiseite zu lassen.1

Doch wie zeigt sich MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in einem literarischen Text bzw. wie qualifiziert sich ein Text als „mehrsprachigMehrsprachigkeitmehrsprachig“? Laut Dembeck und Parr können wir über die explizite Mehrsprachigkeit reden, wenn in einem Text Segmente aus diversen Sprachen nebeneinanderstehen, so dass die unterschiedlichen IdiomeIdiom klar voneinander unterscheidbar sind (Dembeck/Parr 2017: 10). Auch Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar verwendet in ihren Romanen neben der russischenRusslandrussisch bruchstückartig auch andere Sprachen (etwa das ArmenischeArmenienarmenisch), um spezifische Erscheinungen, wie z.B. bestimmte Speisen, zu markieren: „[…] was jeder so draufhat, der eine die ewigen adschapsandal2 und boschbasch3, der andere Rührei mit Wurst und Salzkartoffeln“ (P, 175). Auch bei Begriffen, die bestimmte kulturelle Konzepte in sich tragen, keine exakte Entsprechung in anderen Sprachen haben und deshalb unübersetzbarÜbersetzung/translationunübersetzbar sind, verwendet sie den Originalbegriff aus der anderen Sprache: „Der Mann soll sich vom ersten Tag an als Hausherr fühlen. Und das ist bei diesen Schwiegereltern nicht möglich. Aus einem tanpessa4 kann doch nur ein Gnadenbrotempfänger werden.“ (P, 215). Des Weiteren finden sich in ihren Büchern Überschriften, Buchtitel oder explizite ZitateZitat auf ArmenischArmenienarmenisch, etwa „Der Schöpfer des einzigartigen Verses ‚Aschnan mscheschum schrschuk u scherschjun‘5 und kommunistisches Geschrei, Gelärm, Gefeuer?“ (P, 61–62).

Weiterhin wird in dem literarischen Werk eine andere Sprache eingesetzt, um zu explizieren, dass eine Person eine FremdspracheFremdsprache spricht, um die Eigenartigkeit des fremdsprachlichenFremdsprachefremdsprachlich Sprechens zu unterstreichen (Dembeck/Parr 2017: 10). Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar benutzt beispielsweise in Helena estnischeEstland/Estoniaestnisch Wörter und Wendungen, um mit diesen typische kulturelle Verhaltensweisen zu illustrieren. „Sie behandelte […] eine ältere schwatzhafte Russin, die immer nach drei Worten das estnischsprachige ‚kurat‘ hinzufügte, […] und einen estnischenEstland/Estoniaestnisch jungen Mann, der außer ‚tere‘ und ‚head aega‘6 kein einziges Wort in keiner Sprache sagte“ (H, 131). Illustriert werden hier sowohl die Wortkargheit der Esten als auch bestimmte Sprechweisen der Nicht-Esten, die die LandesspracheLandessprache nicht besonders gut beherrschen.

Thematisiert wird auch die estnischeEstland/Estoniaestnisch SprachpolitikSprachpolitik nach der Wende. 1995 trat nämlich das neue Sprachgesetz in Kraft, womit der Sonderstatus des RussischenRusslandRussisch/Russian als obligatorische Sprache der AmtskommunikationKommunikation aufgehoben und EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian als offizielle Staatssprache festgelegt wurde (RT I 1995, 23, 334). Für viele Nicht-Esten bedeutete dies, dass sie eine neue Sprache erlernen mussten. In Helena kommentiert der Erzähler dies wie folgt: Menschen, die ihre HeimatHeimat verlassen, um ein besseres Leben zu finden (dazu habe gewisserweise auch Helena gehört), sind bereit, neue Regeln und eine neue Sprache zu lernen. Diejenigen aber, die sich „mit ihrem Haus, ihrer Arbeit und ihren Gewohnheiten“ (H, 95) plötzlich in der unabhängigen Republik EstlandEstland/Estonia fanden, wollten kein EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian lernen:

Drittens, guter Leser, wenn ein Provinzbewohner nach Rom zog, dann wurde natürlich von ihm erwartet, dass er römische Sitten befolgt, – doch wer hat von einem Römer erwartet, wenn er in einem fernen Gebiet des Imperiums ankam, dass er etwa nach den Sitten der Chaldäer lebt? Das Bewusstsein des Imperiums ist langlebiger als das Imperium selbst. (H, 95–96)

Gleichzeitig wird hervorgehoben, dass „die meisten JudenJude/Jew und ArmenierArmenienArmenier EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian schnell gelernt haben. Sicher, hier hat der praktische Sinn dieser Nationalitäten eine Rolle gespielt […].“ (H, 96) Auch Helena lernt pflichtbewusst EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, obwohl sie als Russischsprechende sich manchmal darüber ärgert; aber sie als Kosmopolitin konstatiert, dass man die historischenhistorisch Gründe, aus welchen die Esten ein solches Gesetz erließen, sehr gut verstehen kann (ebd.).

Die englischeEnglisch/English Sprache kommt in diesem Roman eher selten vor, meist in Form von Floskeln wie „happy end“ (H, 113) oder festen Begriffen wie „make-up“ (H, 8). Des Öfteren aber wird die Verwendung des EnglischenEnglisch/English thematisiert. EnglischEnglisch/English wird in diesem Roman als eine inhaltslose Sprache „des Bill Gates“ (H, 96), der kapitalistischen PolitikPolitik/politics und Bürokratie empfunden und das Sprechen auf EnglischEnglisch/English mit zu schneller AmerikanisierungAmerika/USAAmerikanisierung assoziiert (H, 97–98). Helena gibt ehrlich zu, dass sie selbst kein EnglischEnglisch/English kann und sie sieht mit Befremden, wie Politiker, die ebenfalls dem EnglischenEnglisch/English nicht besonders mächtig sind, die Sprache trotzdem sprechen, und zwar mit einem starken Akzent: „[…] haben doch die stolzen Präsidenten der drei baltischenBaltikumBaltisch Staaten miteinander auf EnglischEnglisch/English kommuniziert, wenn sie auf einem sammit7 zusammentrafen.“ (H, 97). Ähnlich wirken auch literarisch-kulturelle Anspielungen auf EnglischEnglisch/English. So wird indirekt auf das Schauspiel Pygmalion von George Bernard Shaw bzw. auf das Musical My Fair Lady von Frederick Loewe und Alan Jay LernerLerner, Ben verwiesen: „[…] Liana stoppte plötzlich und begann, mit der Begleiterin des Wikingers [Olev] unisono zu schwätzen, indem sie den üblichen, aus StandardausdrückenStandard bestehenden Begrüßungswechsel durchführte (how do you do, mrs. Higgins)“ (H, 30). Damit wird auf die Inhaltslosigkeit des Small-Talks und die Oberflächlichkeit der Konversation hingedeutet – was einerseits mit der literarischen Anspielung konvergiert, andererseits aber auch die eher kritische Einstellung gegenüber der englischsprachigen (die in diesem Roman weitgehend mit der amerikanischenAmerika/USAamerikanisch gleichgesetzt wird) Kultur, Gesellschaft und PolitikPolitik/politics verdeutlicht.

Sehr oft dagegen kommt in diesem Roman LateinLatein in Form von Sentenzen vor, um bestimmte Situationen zu illustrieren oder um Gedankengänge der Heldin auf indirekte Art zu verdeutlichen. So wird nicht explizit gesagt, dass sie sich gerne tragische Theaterstücke und Filme anschaut, sondern es wird mit einer Sentenz erklärt: „[…] sie hatte während des ganzen zweiten Akts von Ljubimovs Sonnenaufgängen geweint […] das hielt sie nicht davon ab, später mit doppeltem Genuss an die Sonnenaufgänge8 zu denken, das ist nichts Seltsames, denn est quaedam flere voluptas.“9 (H, 27). An einer anderen Stelle weist die lateinischeLateinLateinisch Sentenz darauf hin, dass Helena, obwohl sie sich in estnischer Kultur schon gut orientiert, doch an ihren Wurzeln festhält: „[…] Liebling, du bist schon einigermaßen wie eine Estin geworden, sagte ihr einmal eine von ihren wenigen Bekannten in Tallinn, natürlich eine Russin; caelum, non animum mutant, qui trans mare currunt,10 hatte Helena entgegnet“ (H, 113). LateinischeLateinLateinisch Sentenzen erscheinen also meistens an Stellen, wo Helenas Gedanken oder Stellungnahmen weitergegeben werden – möglicherweise, um ihre gewisse Wesenszüge, ihre Bildung und ihre Intelligenz zu illustrieren und ihre Ideen zu bekräftigen.

Laut Dembeck und Parr kann sich in einem Text neben der expliziten auch die implizite MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit manifestieren, zum Beispiel durch ÜbersetzungÜbersetzung/translation: „[…] wenn gesagt wird, eine Person spreche jetzt SpanischSpanienSpanisch, die Worte, in denen man diese Rede vor sich sieht, aber klar dem EnglischenEnglisch/English zugehören“ (Dembeck/Parr 2017: 10). Auch bei Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar finden sich ähnliche Beispiele dieser impliziten oder latenten MehrsprachigkeitMehrsprachigkeitlatente Mehrsprachigkeit, auch wenn sie eher andeutungsweise zur Geltung kommen. In Penelope, die Listenreiche wird etwa erklärt, dass die Heldin und ihre Schwester miteinander RussischRusslandRussisch/Russian sprechen, obwohl ihre Eltern ArmenischArmenienarmenisch als Umgangssprache pflegen (P, 218). Es ist nicht ganz klar, in welcher Sprache Penelope mit ihren Eltern kommuniziert, doch vermutlich ist es ArmenischArmenienarmenisch. Jedoch stehen im Text auch die DialogeDialog zwischen Penelope und ihren Eltern in der Originalsprache (RussischRusslandRussisch/Russian). Aus Helena erfährt der Leser, dass diese auf ArmenischArmenienarmenisch erzogen wurde, jedoch in der Schule sehr gut RussischRusslandRussisch/Russian lernte und deshalb diese Sprache als ihre „eigene“ betrachtet (H, 106). Auch wird erklärt, dass ArmenierArmenienArmenier gerne RussischRusslandRussisch/Russian als ZweitspracheZweitsprache lernten und sie auch gut sprachen, im Gegensatz zu den Esten, die zwar RussischRusslandRussisch/Russian lernten, aber beim Sprechen „weder den hohen Stil noch die fließende Umgangssprache“ (H, 97) demonstrierten.11 Hierzu sollte erklärt werden, dass die sowjetischeSowjetunionsowjetisch SprachpolitikSprachpolitik, die die NationalsprachenNationNationalsprache unterdrückte, in ArmenienArmenien teils mit Pragmatismus betrachtet wurde, denn der Abschluss einer russischenRusslandrussisch Schule und tiefe Kenntnis der russischenRusslandrussisch Sprache boten bessere Karrieremöglichkeiten (Grenoble 2003: 122f). Deshalb wurde für einen großen Teil der Schüler RussischRusslandRussisch/Russian eine Bildungs- und Gelehrtensprache, während ArmenischArmenienarmenisch für sie eine vorwiegend mündlicheMündlichkeitmündlich Umgangssprache blieb (Markosjan-Käsper 2006: 69). Die Folge jedoch war „das Sprachgemisch“, der eigentümliche „Mix, in dem sich halb Jerewan verständigte“ (P, 216) und die sprachlichen „HybridenHybriditätHybridsprache“ (P, 218).

Des Weiteren, so Dembeck und Parr, zeige sich in mehrsprachigenMehrsprachigkeitmehrsprachig Texten auch „die Verwendung ‚fremdsprachlicherFremdsprachefremdsprachlich‘ metrischer Muster, die ‚wörtliche ÜbersetzungÜbersetzung/translation‘ anderssprachigeranderssprachig idiomatischer Wendungen, die Verwendung übersetzter anderssprachigeranderssprachig ZitateZitat“, die eine andere Sprache innerhalb des Textes implizieren (Dembeck/Parr 2017: 11).

Willms und Zemanek sehen solche Texte als HybrideHybriditätHybridsprache, „gekennzeichnet durch Merkmale wie Heterogenität und InterferenzInterferenz, Dialogizität und PolyphoniePolyphonie, Dezentralisierung und Subversion“ (Willms/Zemanek 2014: 3). Als Beispiel können hier die Sprachspiele, sprachliche Witze und Neuschöpfungen dienen, die in der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig transkulturellenTranskulturalitättranskulturell Literatur von Yoko TawadaTawada, Yoko, Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi oder auch Aglaja VeteranyiVeteranyi, Aglaja oft eingesetzt werden (Wright 2008: 39–40; Willms/Zemanek 2014: 2). Auch Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar benutzt Sprachspiele. In Penelope, die Listenreiche wird die Geschichte der Begegnung von Penelopes Eltern, Klara und Henrik, erzählt, und zwar anhand von russischenRusslandrussisch Zungenbrechern, die an dieser Stelle verballhornt werden:

Doch schon schwankten die Reihen der Neffen und Enkel, und die vier übergeschnappten Teufel traten ab, verkrümelten sich in ihre Zungenbrecher und krochen in den Zuber, der zurückgezogen am Zaun stand in dem Sommer, als Karl der Klara die Korallen klaute. So hatten sie sich auch kennen gelernt. (P, 44)12

Hierzu gehören auch Texte, in denen Systeme fremderFremdheitfremd Sprachen adaptiert werden oder eine Textsorte aus einer Sprache in eine andere übertragen wird, da in solchen Fällen die Herkunft aus einer anderen Sprache und damit aus einer anderen Kultur doch immer eingeschrieben bleibt, etwa bei ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi, die in ihren deutschenDeutschlanddeutsch Texten türkischeTürkeitürkisch Syntax anwendet oder türkischeTürkeitürkisch Redewendungen übersetzt (Willms/Zemanek 2014: 2). Auch Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar lässt ihre Figuren oft so sprechen, wie sie es in ihrer MutterspracheMuttersprache/mother tongue tun würden. So wird in Helena eine Tirade ihres Vaters Torgom weitergegeben, der darüber verärgert ist, dass seine Tochter sich die Leiden ihrer Patienten zu sehr zu Herzen nimmt: „[…] er nannte die Tochter einen kleinen Dummkopf: ‚Du Dummkopf, oh, du Dummkopf, wem weinst du denn nach, mir und auch der Mutter ist nichts passiert, hör doch schon auf, bringst die Not ins Haus…‘“ (H, 28)

Neben der linguistischen Vielfalt in mehrsprachigerMehrsprachigkeitmehrsprachig Literatur sollte meines Erachtens auch die Vielfalt von diversen kulturellen Praktiken erwähnt werden. Denn implizit werden in einem Text verschiedene kulturelle Traditionen eingebunden, die sich etwa im Textaufbau, in der Verwendung von bestimmten Hinweisen auf andere kulturell relevante Texte oder in bestimmten kulturellen Meta- oder Archecodes zeigen (Raud 2018: 130–141). Dies ist oft der Fall bei transkulturellenTranskulturalitättranskulturell Autoren, deren Texte als eine Verflechtung von mehreren Sprach- und Kulturtraditionen und -schichten, die sich in mannigfachen Erscheinungen zeigen, angesehen werden können. Auch Sandra Vlasta setzt auseinander, dass die Situierung eines literarischen Texts in nur einem spezifischen Kontext unmöglich sei: „MigrantMigrant/in writers bring with them new topics, characters or discourses that come from one literary tradition and are introduced to another.“ (Vlasta 2018) Willms und Zemanek sprechen in diesem Zusammenhang auch von intertextuellerintertextuell/intertextual bzw. textexterner MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, der die Textgrenzen überschreitet (Willms/Zemanek 2014: 2).

Dieses Phänomen kann anhand eines ZitatsZitat von Zafer ŞenocakSenocak, Zafer illustriert werden. Er beschreibt den Prozess, wie seine ZweisprachigkeitZweisprachigkeit ihren Anfang nahm, wie folgt:

Das Mutterland TürkeiTürkei hatte ich verlassen, doch das Spiegelland Türkei […] sollte mir erhalten bleiben. Diese Spiegelverkehrung war wichtig, ja unverzichtbar für die Entwicklung meiner literarischen Sprache und bildet letztendlich die Grundlage meiner ZweisprachigkeitZweisprachigkeit. Ich schrieb auf DeutschDeutschlandDeutsch, aber mit türkischenTürkeitürkisch Farbklängen im Ohr […]. (ŞenocakŞenocak, Zafer 2011: 78–79)

Das heißt, er schrieb auf DeutschDeutschlandDeutsch, doch manifestieren sich in seinen Texten türkischeTürkeitürkisch Kulturtraditionen auf eine natürliche und selbstverständliche Weise. Als ein weiteres Beispiel können die Erzählungen von Wladimir KaminerKaminer, Vladimir gebracht werden. In seinen Büchern sehen wir die geschickte Verknüpfung von vielen Geschichten, die dem Erzähler oder seinen Bekannten angeblich passiert sind. In diesem Sinne pflegt Kaminer hier das Genre der so genannten байка (bajka), der humoristischen Erzählung, die zwar die Wahrheit darzustellen beansprucht, gleichzeitig aber auch ziemlich frei mit konkreten Fakten und Daten operiert; aufgegriffen wird dabei die in der SowjetunionSowjetunion weit verbreitete mündlicheMündlichkeitmündlich Tradition des Geschichten- und Anekdotenerzählens (vgl. Heero 2009: 222–223). Es werden also kulturelle Praktiken, die einer bestimmten Sprache eigen sind, erfolgreich in eine andere Sprache übertragen.

In Bezug auf Gohar Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar sollte man noch einmal erwähnen, dass sie nicht als eine armenischeArmenienarmenisch oder russischeRusslandrussisch Autorin klassifiziert werden wollte, sondern als eine Autorin, die bewusst europäischeEuropaeuropäisch literarische Traditionen pflegt (Markosjan-Käsper 2006: 66–67). Deshalb scheint es logisch, dass die beiden hier behandelten Romane einen Bezugspunkt in der WeltliteraturWeltliteratur haben. Penelopa ist wie die Spiegelverkehrung des Romans Ulysses von James JoyceJoyce, James (1922), in dem ein Tag im Leben (16.06.1904) der Hauptfigur Leopold Bloom beschrieben wird. Dargestellt werden nicht nur Ereignisse dieses Tages, sondern auch Gedanken, Vorstellungen, Assoziationen, die sowohl Bloom als auch die anderen Hauptfiguren dieses Romans erleben (Schwarz 1987: 2–4). Was den Roman Markosjan-Käspers betrifft, erfahren wir gleich zu Beginn, dass die Heldin Penelope einen Roman von Joyce, der eindeutig als Ulysses zu identifizieren ist, liest: „Penelope […] zog […] ein Bändchen Joyce zu sich heran. Von wegen Bändchen, einen fetten Band, noch dazu bis zum Geht-nicht-mehr gefüllt mit in winzigster SchriftSchrift gedruckten Quatsch, der von Snobs in den Rang der intellektuellen Bibel erhoben wurde.“ (P, 8) So beginnt der Tag im Leben Penelopes, der im Weiteren detailliert beschrieben wird. Penelope, die hier quasi die Rolle des Odysseus übernimmt, irrt in diesem Roman nicht durch die Welt, sondern durch die ins postsozialistische Chaos gefallene Stadt Jerewan. Sie ist einerseits auf der Suche nach der Möglichkeit eines heißen Bades, andererseits sehnt sie sich nach ihrem Geliebten Armén und ist überglücklich, wenn sie Nachrichten über ihn bekommt – auch wenn diese negativ gefärbt sind. Dennoch bleibt sie Armén treu, indem sie den Heiratsantrag eines wohlhabenden Verehrers ausschlägt, so wie auch die gleichnamige Heldin in HomersHomer Odyssee. Gleichzeitig zieht sie Parallelen zwischen ihrem Leben und Ulysses, etwa, wenn sie zu ihrem Gesprächspartner sagt: „Wie du redest, bin ich ja fast eine Molly Bloom.“ (P, 369). Der Roman dokumentiert nicht nur ihre Aktivitäten im Laufe des Tages, sondern auch ihre Gedanken und Assoziationen, die in Form des inneren Monologs festgehalten werden, z.B.:

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