Kitabı oku: «Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft», sayfa 2

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1.4 Eine neue Theorie

Es geht uns allerdings nicht nur um die Beschreibung der Typen, sondern auch um deren Erklärung. Hierfür stellen wir in Kapitel 2 eine neue Theorie religiös-säkularer Konkurrenz vor. Gemäss dieser Theorie finden wir in allen Gesellschaften religiöse und säkulare (kollektive) Akteure, die um drei Dinge streiten: Macht in der Gesellschaft, Macht innerhalb von Gruppen/Organisationen/Milieus und individuelle Nachfrage. Um in dieser Konkurrenz bestehen zu können, verwenden die kollektiven Akteure verschiedene Strategien: Sie versuchen z. B. ihre Mitglieder zu mobilisieren, politische Aktionen zu starten, Skandale zu provozieren, Koalitionen einzugehen, attraktive Güter anzubieten usw. Hierbei werden sie von vier externen Faktoren beeinflusst: von wissenschaftlich-technischen Innovationen (z. B. Erfindung des Fernsehens), sozialen Innovationen (z. B. Erfindung der Demokratie), Grossereignissen (z. B. Kriege) und soziodemografische Faktoren (z. B. unterschiedliche Geburtenraten). Die Konkurrenzkämpfe führen im Effekt zu diversen höchst interessanten Ergebnissen, deren Erklärung das Ziel der Theorie ist. Neben Erfolg und Misserfolg der verschiedenen Konkurrenten kommt es zu Pattsituationen und Absprachen sowie Situationen der Differenzierung und Entdifferenzierung, Individualisierung und Kollektivierung, Säkularisierung und Resakralisierung. Befriedigende Erklärungen liefert die Theorie allerdings nur, wenn sie an den jeweiligen historischen Verlauf angepasst wird, weshalb wir im Kapitel 2 die Geschichte des säkular-religiösen Konkurrenzgeschehens in der Schweiz seit ca. 1800 nachzeichnen. Aus der so durch die historischen Randbedingungen konkretisierten Theorie können wir eine Reihe von Hypothesen ableiten, die im Verlauf der Arbeit geprüft werden.

1.5 Die These des Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz

Ein dritter Teil unserer Antwort besteht aus der These eines Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz in den 1960er Jahren. In diesem Zeitraum, so unsere These, ist es zu einer kulturellen Revolution gekommen, die wir als einen Wechsel vom «Regime der Industriegesellschaft» zum «Regime der Ich-Gesellschaft» bezeichnen wollen.10 Vor dem Hintergrund eines beispiellosen Wirtschaftsaufschwungs von 1945 bis 1973 (das «Wirtschaftswunder») kam es in den 1960er |14| Jahren zu einer kulturellen Revolution, bei der Autoritäten aller Art angegriffen und das Individuum in seiner Eigenständigkeit zentral gesetzt wurde. Die sich seit der Aufklärung immer stärker durchsetzenden Ideen der Subjektivität, Freiheit und Selbstbestimmung wurden zum bestimmenden Lebensgefühl der Menschen. Damit avancierte das Individuum zur Letztinstanz von Entscheidungen aller Art, seien es politische, familiäre, ökonomische, konsumorientierte, sexuelle – oder eben auch religiöse. Sowohl im alten wie auch im neuen Regime finden wir religiös-säkulare Konkurrenz auf allen drei Ebenen: um Macht in der Gesellschaft, um Macht innerhalb von Gruppen/Organisationen/Milieus, um individuelle Nachfrage. Aber der zentrale Punkt, um den es sich in der Konkurrenz dreht, hat sich völlig verändert. Im alten Regime der Industriegesellschaft war Religion und Konfession ein für die Gesellschaft zentrales kollektives Identitätsmerkmal, und das Christentum wurde als verbindendes Grundmerkmal der Gesellschaft betrachtet. Im neuen Regime der Ich-Gesellschaft gilt dies nicht mehr. Religion und Konfession werden als private und optionale Identitätsmerkmale gesehen, und das Christentum wird mehr und mehr als nur eine Religion unter anderen behandelt. Im kollektivistischen Regime der Industriegesellschaft ging man von der selbstverständlichen Vorherrschaft des Christentums aus – die wichtigsten religiös-säkularen Konkurrenzen bezogen sich auf die Frage, wie viel Platz Reformierte oder Katholiken einnehmen konnten oder wie stark alternative Wertsysteme das Christentum bedrängten. Im individualistischen Regime der Ich-Gesellschaft ist die wichtigste religiös-säkulare Konkurrenz diejenige um individuelle Nachfrage. Religiöse Praxis wird nicht mehr sozial erwartet; sie gehört nicht mehr zur öffentlichen Person; vielmehr wird sie in den Bereich der Freizeit abgedrängt, wo sie sich gegen eine starke Konkurrenz mit anderen Formen von «Freizeitbeschäftigung» und «Selbstentfaltung» behaupten muss.11

Das neue Regime der Ich-Gesellschaft hat nun in den letzten Jahrzehnten zu verschiedenen Effekten auf individueller wie auch kollektiver Ebene geführt. Auf individueller Ebene zeigen sich vor allem Tendenzen des «säkularen Driftens» und der fortschreitenden religiös-säkularen Individualisierung und Konsumorientierung. In sehr vielen Bereichen der Konkurrenz wählen Individuen die säkularen und nicht die religiösen Optionen. Andere Zeitverwendungen (Ausschlafen, Sport usw.) verdrängen den Kirchgang am Sonntagmorgen; säkulare Berufsgruppen (z. B. Psychologen, Coaches) nehmen die Stelle des kirchlichen Seelsorgers ein. Säkulare Erklärungen (z. B. Big Bang, Evolution) werden immer öfter als plausibler angesehen als religiöse Erklärungen (z. B. Schöpfung). Insbesondere in der Erziehung führen die religiös-säkulare Konkurrenz und die den Kindern neu gewährte Freiheit zu massenhafter Abwahl religiöser Optionen. Im Effekt wird |15| jede neue Generation stärker säkular als die vorherige. Ausserdem hat sich die vollständige religiöse Individualisierung und Konsumorientierung durchgesetzt. Die Menschen sehen sich normalerweise selbst als «letzte Autorität» in religiösen Fragen an und sind der Ansicht, dass man niemandem, auch den eigenen Kindern nicht, religiöse Ideen aufzwingen dürfe. Jede Person soll selbst auswählen und «konsumieren», was sie als am wichtigsten erachtet.

Auf kollektiver Ebene zeigt sich, dass religiöse Typen oder Subtypen in der Ich-Gesellschaft vor allem dann Erfolg haben, wenn sie die säkulare Konkurrenz entweder radikal bekämpfen oder gerade versuchen, sie auf ihrem eigenen Feld zu übertreffen. Das gelingt am besten durch Schliessung, d. h. Ausschluss konkurrierender säkularer Möglichkeiten, wie es bei den Freikirchlichen praktiziert wird. Oder durch die radikale Aufnahme der Marktform, indem alle eigenen Angebote in die Form der käuflichen Ware gebracht werden – wie es die Anbieter des alternativen Typus vormachen. Verschiedene Mischformen werden ausprobiert – mit wechselndem Erfolg.

1.6 Methode12

Die wissenschaftliche Erforschung religiös-sozialen Wandels gleicht in manchem der Detektivarbeit. Genau wie ein Kriminalist muss der Sozialforscher sich auf vorhandene Fakten und Indizien stützen, aus denen er – immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftete – Schlussfolgerungen (Inferenzen) ziehen muss. Je mehr unabhängige Indizien in die gleiche Richtung weisen, desto sicherer wird die entsprechende Schlussfolgerung. Diese Technik wird in der Forschung häufig «Triangulation» genannt und ist für unsere Studie von grösster Wichtigkeit.13 Um unsere Befunde so gut wie möglich abzusichern, stützen wir uns auf eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Datenarten. Unsere wichtigste Datenquelle besteht in einer sogenannten Mixed-Methods-Erhebung in den Jahren 2008/9. Hierbei wurden 1229 zufällig ausgewählte, in der Schweiz wohnhafte Personen mit standardisierten Fragebögen zu Religiosität und Spiritualität befragt.14 Diese quantitative |16| Teilstudie kann als für die Schweizer Bevölkerung repräsentativ gelten. Ferner wurden 73 zusätzliche Personen (wiederum zufällig, aber nach Quoten ausgewählt) in halboffenen Interviews zu den gleichen Themen befragt. Diese Gesprächspartner erzählten uns während 60 bis 90 Minuten detailliert, wie sie aufwuchsen, wie sie heute zu Religiosität und Spiritualität stehen, was ihnen im Leben wichtig ist und wie sie ihre Kinder erziehen. Die Kombination der beiden Teilstudien ermöglicht uns die Triangulation von quantitativen und qualitativen Daten: Statistische Zusammenhänge können mit Erzählungen und individuellen Handlungsweisen in Zusammenhang gebracht werden, so dass wir ein schlüssiges Gesamtbild der Religiosität, Spiritualität und Religionslosigkeit in der Schweiz erhalten.15 Neben dieser Hauptstudie wurden auch die Volkszählungsdaten herangezogen sowie 22 repräsentative Befragungen zu Religiosität in der Schweiz ausgewertet.16 Unter diesen Befragungen sind die beiden Vorläuferstudien von 1989 und 1999 besonders wichtig, denn viele ihrer Fragen wurden durch unsere Studie direkt repliziert.17 Schliesslich haben wir zu Vergleichszwecken auch die Daten einer repräsentativen, ebenfalls Mixed Methods verwendenden Studie über evangelische Freikirchen in der Schweiz herangezogen.18

1.7 Was ist neu?

Auch wenn wir in vielem auf früheren Arbeiten aufbauen, nehmen wir doch in Anspruch, in verschiedener Hinsicht einen neuen Beitrag zu leisten. Zum einen bieten wir eine neuartige Beschreibung der religiös-spirituellen Landschaft der Gesellschaft. Wir hoffen, dass unsere Typologie der Institutionellen, Alternativen, Distanzierten und Säkularen samt ihren Untertypen der zukünftigen Forschung dient und auch den Praktikern zur Orientierung eine gute Hilfestellung ist. Gegenüber den bisherigen Studien haben wir insbesondere darauf geachtet, nicht nur die hoch (und vor allem institutionell) Religiösen zu untersuchen, sondern auch der alternativen Spiritualität, den säkular Denkenden und der sehr grossen, aber bisher völlig vernachlässigten Gruppe der Distanzierten die gebührende Beachtung zu schenken. Zum anderen liefern wir eine neue Erklärung des religiösen Wandels, die wir Theorie der religiös-säkularen Konkurrenz nennen. Diese Theorie erklärt, so meinen wir, die vorliegenden Phänomene besser als alternative |17| Theorieangebote; ausserdem lässt sie sich besser mit historischen Analysen zusammenschliessen. Schliesslich betreten wir auch mit unserer Methode gegenüber den Vorläuferstudien Neuland, indem wir sowohl qualitative als auch quantitative Daten verwenden und die Phänomene sowohl statistisch als auch in ihrer subjektiv empfundenen Wirklichkeit darstellen.

1.8 Grenzen und eigene Position

Wissenschaftliche Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Reichweite methodisch bedacht wird. Eine erste Grenze besteht darin, dass unsere Ergebnisse sich strikt auf die individuelle Ebene beziehen. Gemeinschaften und Organisationen – etwa Kirchen – kommen nur aus der Perspektive der einzelnen Menschen vor. Eine zweite wichtige Grenze unserer Studie ist, dass sich unsere Typologie und Erklärung auf christliche, alternative und konfessionslose Religiosität bzw. Religionslosigkeit beschränkt. Aus methodischen und organisatorischen Gründen schliessen wir Mitglieder nichtchristlicher Religionen und religiöser Minderheiten (z. B. Islam, Buddhismus, Hinduismus, Judentum, neue religiöse Bewegungen) von der Analyse aus. Ein Einbezug all dieser Religionen würde unseren Rahmen sprengen und ein ganz anderes (sehr viel aufwändigeres) Forschungsdesign erfordern. Ausserdem wurden im Nationalen Forschungsprogramm (NFP 58) zu «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft», dem auch diese Studie ihre Finanzierung verdankt, eine Vielzahl von Forschungsprojekten zu diesen verschiedenen Religionen durchgeführt.19 Ein dritter Punkt betrifft die Geltungsreichweite unserer Befunde: Auch wenn wir durchaus der Meinung sind, dass unsere Hauptergebnisse sich in vielem auf die Geschehnisse in anderen westeuropäischen Ländern übertragen lassen, gelten sie doch streng genommen nur für die Schweiz, etwa seit 1930.

Ein Wort zu unserer Position als Wissenschaftler/innen. Wir nehmen eine dezidiert religionssoziologische Position ein, die religiöse und säkulare Phänomene «von aussen» betrachtet. Es geht uns allein darum, die Phänomene so genau wie möglich zu erfassen und zu erklären. Hingegen versuchen wir – so gut es geht – eigene Werte aus der Analyse herauszuhalten. Wir äussern uns also nicht dazu, ob das Schrumpfen oder Wachsen eines bestimmten Milieus zu begrüssen oder mit Sorge zu betrachten sei. Wir reden auch keiner religiösen, spirituellen oder säkularen |18| Richtung das Wort.20 Eine weitere Position unserer Studie ist der sogenannte «methodologische Agnostizismus»21. Hiermit ist gemeint, dass wir aus methodologischen Gründen die Frage nach der Wahrheit spezifischer religiöser, spiritueller oder säkularer Positionen ausklammern.22

1.9 Darstellung und Plan des Buches

Soziologen – so der Volksmund – sagen, was jeder weiss, in einer Sprache, die keiner versteht. In diesem Buch haben wir uns alle Mühe gegeben, das Gegenteil zu beweisen und unsere Aussagen in leicht verständlicher Sprache darzustellen. Auf wissenschaftliche Fachausdrücke konnten wir zwar nicht völlig verzichten; wir haben aber versucht, schwierige Konzepte so einfach wie möglich zu erklären. Komplexere methodische Überlegungen und statistische Analysen haben wir in den Anhang gestellt.

Eine Bemerkung zur Art, wie wir Befragte zitieren: Längere Zitate stehen ausserhalb des Fliesstextes, sind immer kursiv gesetzt und mit der (anonymisierten) Identität, dem Alter und der Konfession der betreffenden Person versehen. In Kapitel 3 und im Anhang finden sich Kurzbeschreibungen der Befragten, so dass interessierte Lesende einen (anonymisierten) weiteren persönlichen Kontext einzelner Befragter rekonstruieren können. Kurze Zitate im Text sind kursiv gesetzt und stehen in Anführungszeichen; nicht immer geben wir die Person an, die das Betreffende gesagt hat. Hier geht es uns darum zu zeigen, wie der gleiche Sachverhalt oft ganz unterschiedlich formuliert wird. |19|

In Kapitel 2 stellen wir bisherige Theorien, unsere eigene Konkurrenztheorie sowie aus dieser abgeleitete Hypothesen vor. Kapitel 3 präsentiert in einem Überblick die vier Typen bzw. «Gestalten des (Un-)Glaubens». In Kapitel 4 beschreiben wir die sozialstrukturellen Eigenschaften und Selbstbeschreibungen der Typen, in Kapitel 5 gehen wir auf ihre Religiosität (Glauben, Praktizieren, Erleben) ein, und Kapitel 6 behandelt ihre Beziehungen zu Werten. In der Folge zeigen wir, wie sich die Typen in ihrem Verhältnis zu religiösen Anbietern (Kapitel 7) und ihrer Wahrnehmung der multireligiösen Gesellschaft (Kapitel 8) unterscheiden. In Kapitel 9 schliesslich kommen wir auf unser erklärendes Modell zurück, indem wir die Hypothesen aus Kapitel 2 empirisch prüfen. Kapitel 10 bündelt die Ergebnisse und schliesst mit einem Ausblick auf die Zukunft von Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. |20|

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2 Theorie: Religiös-säkulare Konkurrenz in der Ich-Gesellschaft

Jörg Stolz, Judith Könemann

«Statt der betenden Wallfahrtszüge sieht man Sänger, Turner,

Feuerwehrmänner, Schützen, Jahrgänger, Sonntagsschänder

in Gesellschaft moderner Damen Berg und Thal überfluthen,

in ungestümer Hast und unbezämbarer Gier

nach freiem Athem und Lebensgenuss haschen»

Pius-Annalen, 1875

In diesem Kapitel stellen wir eine neue Theorie religiös-säkularer Konkurrenz vor, die versucht, die zu beobachtenden Veränderungen der Religion in der Gesellschaft zu erklären. Bisherige Erklärungsversuche haben zwar wichtige Einsichten zutage gefördert, sie weisen aber auch verschiedene Mängel auf. Insbesondere sind diese Ansätze manchmal zu beschreibend und zu unhistorisch. Die hier vorgelegte Theorie soll im Unterschied dazu in der Lage sein, die Phänomene in deutlicher Nähe zu den spezifischen historischen Gegebenheiten zu erklären. In diesem Kapitel behandeln wir zunächst die wichtigsten bisherigen Thesen und Theorien: die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungstheorie und die Markttheorie. Anschliessend stellen wir unseren eigenen Erklärungsansatz, die Konkurrenztheorie religiös-sozialen Wandels, vor. Aus dieser Theorie lassen sich verschiedene Hypothesen ableiten, die im Verlauf des Buchs empirisch getestet werden.23 |21|

2.1 Theorien zu Religion und Moderne
Säkularisierungstheorie24

Die wichtigsten Klassiker der Soziologie – Auguste Comte, Herbert Spencer, Max Weber, Emile Durkheim und Karl Marx – waren allesamt überzeugt, dass die Folgen der Aufklärung, das Voranschreiten der Industrialisierung und die zunehmende Arbeitsteilung langfristig zu einem Niedergang des Religiösen führen müssten. Sie haben die Tradition begründet, die wir hier als «Säkularisierungstheorie» bezeichnen. Auguste Comte25 etwa dachte, die menschliche Gesellschaft entwickle sich gesamthaft von einem theologischen über ein metaphysisches zu einem vollständig wissenschaftlichen Stadium. Die Wissenschaft (und vor allem die Soziologie) würde also – so Comte – die Religion ersetzen. Max Weber26 war der Meinung, vor allem der Protestantismus habe (ungewollt) zur Entwicklung des modernen Kapitalismus geführt. Einmal entstanden, stosse die moderne kapitalistische Gesellschaft das Religiöse als eine ihr fremde «Wertsphäre» jedoch immer mehr ab.27 Durkheim28 schliesslich argumentierte, die moderne Gesellschaft zeichne sich durch eine immer stärkere Arbeitsteilung aus, was die Religion, die ursprünglich alles umfassen konnte, immer mehr schwäche.29

Verschiedene Religionssoziologen haben die Säkularisierungstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgenommen und fortentwickelt.30 Sie heben jedoch je unterschiedliche zentrale Merkmale des Modernisierungsprozesses hervor. Wilson31, Luhmann32 und Casanova33 etwa halten das schon von Durkheim und Weber beobachtete Element der Ausdifferenzierung der Gesellschaft für besonders wichtig.34 Gemäss diesen Theoretikern differenziert sich die Gesellschaft, |22| wodurch verschiedene Systeme (z. B. Wirtschaft, Erziehung, Recht, Politik, Medizin usw.) entstehen, die nach je eigenen Gesetzen und «Logiken» ablaufen. Hinsichtlich der Bedeutung religiöser Bezüge in der Gesellschaft werden unterschiedliche Positionen vertreten, so halten Wilson und Luhmann daran fest, dass religiöse Bezüge durch die Ausdifferenzierung immer mehr in den Hintergrund gedrängt würden. Religion als eigenes System stehe in einer strukturellen Spannung zur Modernisierung und sei zudem nicht besonders leistungsfähig. Demgegenüber vertritt Casanova entschieden die These einer strukturellen Vereinbarkeit von Religion und Moderne. Differenzierung führe nicht notwendigerweise zu einem Niedergang religiöser Überzeugungen – auch wenn dies in Europa empirisch vielfach der Fall sei. Von dieser Ausgangsposition her entwirft Casanova das Modell der «öffentlichen Religion», deren Organisationsformen starke zivilgesellschaftliche Akteure sein können.35

Eine zweite Form der Säkularisierungstheorie wird von Pippa Norris und Ronald Inglehart vertreten. Diese Variante stellt die Tatsache in den Vordergrund, dass es im Lauf der Modernisierung zu einer deutlichen Anhebung des Lebensstandards und einer Verringerung zentraler Lebensrisiken komme.36 Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt zeichnen sich etwa westeuropäische, stark modernisierte Länder durch grossen Reichtum, einen Wohlfahrtsstaat, hochwertige medizinische Versorgung, Versicherungen usw. aus. Da es bei Religion zentral um die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen gehe und da Modernisierung solche Situationen entweder zum Verschwinden bringe (z. B. Pest, Kindersterblichkeit) oder mit technischen, säkularen Mitteln bearbeitbar mache, sinke in modernisierten Ländern die Nachfrage nach Religion.

Der Religionssoziologe Steve Bruce macht in einer dritten Variante der Säkularisierungstheorie speziell auf die Tatsache aufmerksam, dass Religion und Religiosität bis in die Moderne hinein gar keine individuellen Angelegenheiten waren, sondern sozial erwartet wurden.37 Ein Abweichen vom rechten Glauben konnte schwerwiegende Folgen haben; die Inquisitionen, Hexenverbrennungen wie auch die vielen um Religion geführten Kriege zeigen dies mit grösster Deutlichkeit. Durch Modernisierung und die mit ihr einhergehenden Toleranz- und Religionsfreiheitsgesetze werden die Normen, die Religion als für die Menschen verbindlich erklären, immer mehr aufgelöst. Früher war Unglaube, heute ist Glaube Privatsache.38 |23|

Eine vierte und letzte Variante stellt die mit zunehmender Modernisierung abnehmende Plausibilität der Religion in den Vordergrund. Das moderne Bewusstsein empfindet es – so Peter Berger39 – als immer schwieriger, an «transzendente Mächte» wie etwa Götter, Engel oder Teufel zu glauben. Ein Grund liege – erneut – in der uns umgebenden modernen Gesellschaft, die unerwartete Geschehnisse routinemässig wissenschaftlich (geologisch, medizinisch, physikalisch usw.) erklärt. Ein anderer Grund kann darin gesehen werden, dass moderne Gesellschaften plural sind: Das Individuum sieht sich vielen verschiedenen Religionen und nicht-religiösen Weltanschauungen gegenüber, die alle je einen (manchmal absoluten) Wahrheitsanspruch anmelden.40 Dies führt im modernen Bewusstsein zu einer Selbstrelativierung und zur Distanzierung vom eigenen religiösen Standpunkt.41 Alle Religion verliert damit an Gewissheit; es kommt zum «Zwang zur Häresie».42

Viele der genannten Argumente sind plausibel, und es ist empirisch nicht von der Hand zu weisen, dass Modernisierung (Demokratisierung, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats, Alphabetisierung, Industrialisierung) und die Abnahme von Religiosität weltweit Hand in Hand gehen.43 Dennoch ist die Säkularisierungstheorie von verschiedener Seite scharf kritisiert worden. Sie sei zu allgemein, einseitig, ethnozentrisch, gender-blind usw.44 Wie Detlef Pollack gezeigt hat, sind viele dieser Kritikpunkte nur zum Teil gerechtfertigt und beruhen oft auf Übertreibungen und falschen Annahmen.45 Dennoch kann man u. E. drei Punkte an der Säkularisierungstheorie bemängeln:

Erstens fehlt vielen modernisierungstheoretischen Ansätzen eine Akteurperspektive.46 Individuen und kollektive Akteure (wie Gruppen und Organisationen) kommen in diesen Theorien einfach nicht vor; stattdessen ist die Rede von abstrakten Prozessen wie «Differenzierung», «Sozietalisierung», «Pluralisierung», die |24| sich in letztlich nicht geklärter Weise gegenseitig beeinflussen sollen. Dobbelaere bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt:

«Too little attention has been paid to the question of just which people in just which social positions became the ‹sacralizers› or the ‹secularizers› in given situations […] Laicization is not a mechanical process to be imputed to impersonal and abstract forces.»47

Zweitens (und mit dem ersten Punkt zusammenhängend) fehlen den modernisierungstheoretischen Ansätzen klare Vorstellungen über die genauen kausalen Mechanismen, die ihre Erklärung voraussetzt. Solche Mechanismen müssten angeben, wie genau gesellschaftliche Bedingungen die Situation von individuellen und kollektiven Akteuren beeinflussen, aufgrund welcher Interessen, Ressourcen, Glaubensüberzeugungen usw. diese Akteure im Anschluss daran handeln und welche gewollten und ungewollten Effekte sich hieraus ergeben. Nur eine Theorie, die in dieser Weise Makro-, Meso- und Mikrophänomene durch kausale Mechanismen verbindet, ist wirklich erklärend. Stattdessen finden wir bei den meisten modernisierungstheoretischen Ansätzen relativ allgemeine Aussagen über Zusammenhänge von Makroprozessen. Smith formuliert diesen Kritikpunkt folgendermassen:

«A […] problem with secularization theory is that scholars in this tradition often under-specify the causal mechanisms that are presumed to link the social factors that are claimed to have transformed the role of religion in public life with the secularization outcome.»48

Drittens schliesslich führen die beiden genannten Punkte dazu, dass modernisierungstheoretische Ansätze oft relativ abstrakt bleiben, nur schwer mit den konkreten historischen Geschehnissen in Verbindung gebracht werden können und insbesondere nicht in der Lage sind, die grossen historischen, regionalen und nationalen Unterschiede zu erklären. So kritisiert der Historiker Mark E. Ruff an den soziologischen Säkularisierungstheorien:

«[…] these debates have operated with a host of weaknesses. They have consistently lacked a sound empirical basis and have frequently bordered on the ahistorical. […] Most importantly most of the theorists of secularization from the 1960s and 1970s |25| applied these processes indiscriminately to almost all European nations, regardless of differing national and religious traditions.»49

Wir werden später eine eigene Theorie vorstellen, die versucht, diese Probleme besser zu lösen. Zuvor ist jedoch noch die von Thomas Luckmann formulierte Kritik gegenüber der Säkularisierungstheorie zu erörtern.

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