Kitabı oku: «TITANROT», sayfa 3

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Rettung

Sonnenwind, auf dem Weg zur Forschungsstation

In den Beschleunigungstank drang nichts ein, was die Navigatorin aus ihrem Dämmerzustand erwecken konnte. Kein Licht, kein Geräusch. Nicht einmal die Vibrationen des Maschinenraums. Nur die Projektion der bunten Linien und Zahlenreihen des Navigationsprogramms forderten ihre Aufmerksamkeit. Ein roter Punkt namens Sonnenwind blinkte auf einem Orbit, der sie in der Nähe des Asteroiden vorbeiführte. Auf dieser Umlaufbahn lag auch ein grüner Marker, der den Treffpunkt kennzeichnete, an dem sie das Dingi, in dem Glenn und Tian auf die Abholung warteten, einsammeln würde.

»Lena?«, fragte Dan, der Funker übers Kom. Seine Stimme erreichte sie durch einen Schleier aus Bedeutungslosigkeit. Der Sinn des Wortes entglitt ihr wie ein Traum beim Aufwachen. Über den Navihelm steuerte sie die Sonnenwind mit ihren Gedanken. Jegliche Ablenkung gefährdete ihre Kontrolle über das Schiff. Jede unbedachte Bewegung, jedes Gefühl, jeder Gedanke verursachte Hirnaktivitäten, die von dem silbrigen Gestell auf ihrem Kopf missinterpretiert werden konnten. Zwar flog das Schiff in diesem Moment auf Autopilot. Doch einer ihrer Gedanken reichte, um die Steuerung zu übernehmen. Das Nichtstun gehörte zu den wichtigsten Fähigkeiten einer Navigatorin und versetzte sie in einen tranceähnlichen Zustand, der sie mit jeder Minute tiefer in eine Welt der Leere abgleiten ließ. Bis ihr Bewusstsein sich darin auflöste.

»Lena«, wiederholte Dans Stimme den Namen.

Ihren Namen. Sie entkoppelte die Kontrolle des Navihelms mit einer Bewegung ihres Zeigefingers von den Schiffsfunktionen. Das salzige Gel, das den Tank, ihre Gehörgänge, ihren Mund und sogar ihre Lungen ausfüllte, floss bei jeder Bewegung seidig über ihre Haut.

»Ja?«, fragte sie in Gedanken. Sie brauchte ihre gesamte Konzentration, um das Wort zusammenzusetzen. Und weil sie dank des Gels in ihren Atemwegen und dem Schlauch im Rachen nicht sprechen konnte, übersetzte der Beschleunigungstank ihre Hirnaktivität in Sprache. Ihre eigene Stimme hallte ungewohnt piepsig wie ein Fremdkörper zwischen den Wänden wider. Dans ebenfalls computergenerierte Stimme antwortete. Aber der Funker klang für sie wie immer.

»Der Peilsender des Dingis wurde angeschaltet. Wir empfangen ein starkes Signal.« Er hörte sich unzufrieden an. »Das Signal kommt von der Asteroidenoberfläche. Und wir haben eine Nachricht erhalten.«

Die Überbleibsel der Navitrance fielen von ihrem Denken ab und gaben ihr Bewusstsein endgültig frei. Wieso aktivierte Glenn den Peilsender direkt neben der Anlage von Lehrsinn-Bode? Etwas war schiefgelaufen. »Spiel die Nachricht ab, Dan.«

Glenns Stimme hallte durch den Tank. »Hier spricht Käpt’n Michels. Rufe Sonnenwind. Wir haben den Auftrag erfolgreich durchgeführt. Ich möchte Sie darum bitten, das Rendezvous an den abgesprochenen Koordinaten zu bestätigen.«

»Das ist nicht Glenn«, sagte sie mehr zu sich selbst, als zu Dan. Eine Stimme nachzustellen gehörte zu den einfachsten Übungen. Den Charakter einzufangen gelang allerdings nur mit genügend Daten.

»Soweit waren wir schon«, schaltete sich Nance, die Programmiererin, in das Gespräch ein. »Was machen wir denn jetzt?«

Gute Frage. Die Konglos hatten das Dingi gefunden, den Peilsender angeschaltet und wussten, wem es gehörte. Wahrscheinlich befanden sich Glenn und Tian in ihrer Gewalt. »Wir sollten verschwinden. Das klingt nach einer Falle.«

»Wir können uns doch jetzt nicht verziehen!«, protestierte Nance.

»Ich sagte, wir sollten verschwinden. Nicht, dass wir das tun werden«, erklärte Lena. Eine Idee regte sich in ihren Gehirnwindungen. Kalte Schauer liefen über ihre Haut, als sie den Gedanken hervorzog. »Ich werde die Sonnenwind auf einen Kollisionskurs mit der Forschungseinrichtung bringen.«

»Bist du übergeschnappt?«, fragte Dan mit schriller Stimme. »Was soll das bringen? Außer unserem Tod und dem von Glenn und Tian?«

»Soweit kommt es nicht«, erklärte sie sicherer, als sie sich fühlte. »Du wirst diesen Konglos nämlich sagen, was wir vorhaben.«

»Dir ist bewusst, dass die Abwehrmechanismen dort haben?«, fragte Nance. »Allein schon, um Meteoritenschauer davon abzuhalten, ihre teure Station zu demolieren. Und du willst denen sagen, wo sie hinzielen müssen?«

»Die Sonnenwind ist kein Eisklumpen. Die werden es nicht schaffen, einen verheerenden Einschlag abzuwenden. Und deshalb bieten wir denen an, das Dingi samt Glenn und Tian einzusammeln, während wir eine Kollision vermeiden. Natürlich werden sie uns angreifen. Wir müssen schneller sein. Bevor wir Gefahr laufen, wirklich auf dem Asteroiden einzuschlagen, wenden wir eh ab. Macht ihr mit?«

»Ein Bluff? Was, wenn die statt Tian und Glenn ‘ne Bombe aufs Dingi setzen?«, fragte Nance. Dann seufzte sie. »Bin dabei. Aye.«

»Du bist dabei?«, fragte Dan und klang erschöpft. »Hast du nicht selbst gerade was von einer Bombe gefaselt? Ich bin von Irren umgeben.«

»Bist du dabei, Dan?«, hakte Lena nach.

»Aye«, sagte der Funker. »Ich werde versuchen, Kontakt mit dem Dingi aufzunehmen, sobald wir es auf dem Schirm haben. Tian wird uns hoffentlich warnen, bevor sie uns in die Luft sprengen.«

»Hoffentlich«, sagte Lena. »Ich werde die Sonnenwind beschleunigen, damit wir genügend kinetische Energie einpacken, um unsere Drohung ernst klingen zu lassen. Dann gibst du den Konglos unsere Forderungen durch. Wenn die Tian und Glenn rausrücken, müssen wir abbremsen, das Dingi einsammeln und wieder beschleunigen. Ich werd das alte Mädchen bis an ihre Grenzen triezen.«

»Wir sind die Grenzen ihrer Belastbarkeit«, erklärte Dan, als fürchtete er, sie könnte das vergessen haben.

»Nehmt die Blutungsstiller, wenn ihr euch unwohl fühlt.« Lena schloss die Augen, um sich für das Bevorstehende zu sammeln. Mit einer Fingerbewegung übernahm sie die Kontrolle über das Schiff und beschleunigte. Die Triebwerke im Heck katapultierten die Sonnenwind durch die Leere. Der Druck, der auf ihr lastete, schmerzte selbst im Tank.

»Lena!«, rief Dan nur wenige Augenblicke später. »Es gibt Bewegungen auf der Asteroidenoberfläche. Eine Raumfähre verlässt die Station.«

Die Worte erreichten sie noch an der Schwelle zur Navitrance. Sie entkoppelte ihre Kontrolle.

»Das braucht uns nicht zu interessieren«, erklärte sie. »Schick den Konglos unsere Forderungen.«

»Aber da stimmt was nicht«, sagte Dan. »Auf dem Video der Außenkamera sieht’s aus, als habe die Raumfähre ein Loch in der Seite.«

»Ein Loch?«, fragte Lena. »Was soll das heißen?«

»Die halbe Backbordseite fehlt.«

»Und die fliegen?« Die Verwirrung nahm ihr die Ruhe, die sie zum Navigieren brauchte. Das war kein Zufall. Ein kaputtes Shuttle flog aus dem Hangar einer schnieken Konglostation, während Glenn und Tian dort ihr Dingi vermissten? Kein Felsenkleber startete mit einer offenen Seite ins All.

»Zeig mir die Aufnahmen, Dan«, sagte Lena. Die Bilder einer Kamera ploppten neben der Navikarte im Dunkel ihres Tanks auf. Ein silbernes Shuttle mit aufgerissener Seite entfernte sich vom Asteroiden. Drohnenjäger erschienen und verfolgten es. Etwas blitzte an der Shuttlehülle auf und das ganze Schiffchen erzitterte.

»Die schießen! Die bringen Tian und den Käpt’n um«, rief Nance.

»Niemand bringt hier irgendwen um«, sagte Lena. »Haltet euch fest. Das wird kurz und schmerzhaft, Leute.«

»Aye«, erklärten die beiden anderen ihre Bereitschaft einstimmig.

Lena betrachtete die Videoaufnahmen. Jetzt musste sie möglichst schnell und möglichst tief ins Nichts der Trance abtauchen.

Zehn. Sie schloss die Augen. Neun. Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust. Acht. Sie stellte sich vor, wie ihr Blut vom Herzen in Arme und Beine floss. Sieben. Ihre Gedanken wurden fortgespült. Fünf. Das Medium umfing sie wie ein Panzer. Vier. Sie schwebte reglos im Tank. Drei. Sie übernahm die Kontrolle über das Schiff. Zwei. Sie befahl der Sonnenwind, die Beschleunigung zu erhöhen. Eins. Das Schiff gehorchte.

Die Fliehkräfte drückten sie tief ins Gel und nahmen ihr jegliche Bewegungsfreiheit. Das Schrillen des Tankalarms warnte die Besatzung vor zu großen Belastungen. Die Anzeige der Vitalfunktionen blinkte in der Dunkelheit rot auf. Ein Befehl der Navigatorin brachte den Tank zum Verstummen. Zurück blieb die Dunkelheit der Trance. Das Shuttle und die Drohnenjäger leuchteten auf der Navianzeige. Ihre Flugbahnen schimmerten vor ihr wie goldene Schienen im Nichts. Die Jäger feuerten wieder und wieder auf die Fähre. Jeder Schuss ein winziger Lichtpunkt. Ein einzelner Gedanke bahnte sich an die Oberfläche ihres Bewusstseins: Die Schüsse galten Glenn.

Sie veränderte den Kurs der Sonnenwind. Zwang das Schiff, den Abstand zwischen sich und den Jägern zu verkürzen. Sie zielte, beschleunigte und traf. Die Drohnen zerbarsten. Im Tank spürte ihr Körper nichts von dem Aufprall. Das Gel dämpfte alle Erschütterungen. Doch sie erlebte den Zusammenstoß in ihren Gedanken und ihre Armhärchen stellten sich auf. Kein Navigator fügte seinem Schiff ungerührt einen Kratzer zu.

»Jetzt«, dachte die Navigatorin, um die anderen Menschen an Bord vor dem bevorstehenden Bremsmanöver zu warnen. Ihre computergenerierte Stimme hallte durch den Tank. Doch sie wartete nicht auf eine Bestätigung. Sie drehte das Schiff um hundertachtzig Grad, sodass das Heck mit den Triebwerken zur Flugrichtung zeigte. Die Fliehkräfte drückten ihr Blut in die untere Hälfte ihres Körpers, als die Sonnenwind herumschleuderte, wie in einer Zentrifuge. Schmerz brannte in ihren Gliedern. Die Navigatorin ignorierte ihn. Ihr Körper hielt das aus. Winzige Pumpen stellten die Blutzufuhr zu ihrem Gehirn sicher. Das Gel in ihren Atemwegen verhinderte den Kollaps ihrer Lungenflügel. Alles andere besaß keinerlei Bedeutung. Der Medisarg konnte alles andere wieder herrichten.

Dann gab sie Schub entgegen der Flugrichtung, um das Schiff abzubremsen und die Drehung zu stoppen. Wieder drückte die Gewalt des Manövers ihren Körper tief ins Gel. Mit einem Gedanken öffnete sie die Bugklappe, die nun in Richtung des Asteroiden zeigte. Auf der Karte vor ihr verkleinerte sich die Strecke zwischen dem unbenannten Punkt, der das Shuttle darstellte, und dem Punkt namens Sonnenwind. Das Bremsmanöver brauchte zu viel Platz. Sie würde es nicht schaffen, das Schiff auf eine sichere Geschwindigkeit abzubremsen, bevor sie mit dem Shuttle zusammentraf. Die Navigatorin gab Schub, um die Geschwindigkeit weiter zu verringern. Die Wucht, mit der die Sonnenwind abbremste, zerrte an jeder Faser ihres Körpers. Ihre Aufmerksamkeit aber galt allein den Anzeigen vor ihr. Noch dreihundertzwanzig Kilometer bis zum Auftreffen. Sie würde das Schiff wieder drehen müssen, damit die Bugklappe rechtzeitig in Richtung der Fähre zeigte.

Noch hundertachtzig Kilometer. Die Navigatorin gab in dem Versuch, noch mehr Geschwindigkeit aus dem Manöver zu nehmen, erneut Schub auf die Triebwerke, bevor sie das Schiff herumriss. Wieder ignorierte sie die Schmerzen.

»Signifikante Temperaturerhöhung auf der Asteroidenoberfläche. Vermutliches Hochfahren der Laser«, sagte Nance. Selbst ihre computergenerierte Stimme klang angestrengt. Als spreche sie durch zusammengebissene Zähne. Die Navigatorin verstand die Worte nicht. Aber sie erkannte die Änderung in den Anzeigen vor ihren Augen. Sie brachte die Sonnenwind auf einen Abfangkurs mit der Fähre. Das Shuttle mit der Bugklappe einzufangen bedeutete, dass sie keinen Meter daneben liegen durfte. Sie traf. Die Fähre landete im vorderen Frachtraum.

Der Aufprall jagte ihr das Adrenalin bis in die Haarwurzeln. Bilder von Glenn, der mit verrenkten Gliedmaßen im Buglager trieb, drängten in ihr Bewusstsein. Ihre Muskulatur verspannte sich. Die Sonnenwind reagierte mit einem Aussetzer in der Beschleunigung. Sie musste sich beruhigen.

Glenn trug einen Anzug. Einen Helm. Sonst hätte er nicht in einem Shuttle mit einem Loch in der Seite gesessen. Der Kopf war sicher. Der Medisarg konnte ihn retten, solange das Hirn intakt blieb. Trotzdem. Hatte sie ihn gerade umgebracht?

Diesmal brauchte die Navigatorin einen Herzschlag, um die Gedanken zu verscheuchen, bevor sie abermals beschleunigte. Die Sonnenwind schoss davon. Ein Treffer erschütterte das Schiff. Wieder blinkten die Anzeigen.

»Außer Reichweite«, sagte Nance. Ihre Stimme klang noch immer angestrengt. Ihre Worte abgehackt. Aber der Ton war weniger schrill. »Die Treffer rütteln uns durch. Aber das alte Mädchen wird sie abschütteln.«

Die Navigatorin schaltete die Computersysteme und damit die Warnungen des Schiffes vor gefährlichen Manövern, wieder an. Sofort schrillte Alarm. Die Sonnenwind warnte ihre Besatzung, dass sie durch eine Fortsetzung der Beschleunigung physischen Schaden davontragen konnten, und schlug vor, die Triebwerke zu drosseln.

»Manöver fortsetzen«, befahl die Navigatorin. Von hier an brauchten sie keine lebensgefährlichen Manöver mehr, die sich dem Willen der Programmierung widersetzten. Der Computer übernahm und Lena zog sich erschöpft in die Tiefen der Trance zurück.

Erweckung

Kolonistenkreuzer Rhea in der Schwarzen See

Die Behörden des Solschwarms stuften Leute, die eine starke KI erschufen, als Feinde der Menschheit ein. Chan freute sich darauf, dem Einflussbereich der inneren Planeten und des Habitatschwarms zu entkommen. Diese althergebrachten Regeln galten für ihn nicht mehr. Das Gefahrenpotenzial einer Singularität fand sich in der Natur der Menschen selbst wieder. Es schien eine Art Naturgesetz zu sein, dass Menschen neue Spielzeuge als Erstes für Mord und Totschlag einsetzten. So wie sie es mit dem Wesen getan hatten, das sich selbst als das Kollektiv bezeichnet hatte, nachdem es erwacht war. Die Idee, dass jede nicht menschliche Intelligenz denselben gewalttätigen Pfad nahm, entbehrte jeder Grundlage. Hier auf der Rhea gab es jedoch kein Militär, das eine KI zweckentfremden würde. Das Kolonieschiff entfernte sich mit jedem Atemzug weiter vom Militärapparat und den verkrusteten Strukturen des Solsystems. Von seinem Vorhaben ging keinerlei Gefahr aus.

Sein Blick wanderte zu der Scheibe in seinem Laborboden. Dahinter funkelten die Sterne und der Lichtpunkt, zu dem Pana zusammengeschrumpft war. Der Zwergplanet war das Letzte, was er vom Sonnensystem sehen würde, und sein Licht verblasste bereits gegen die Schwärze des Alls. Die Fesseln der alten Welt ließ er in diesem Moment hinter sich. Warum fühlte er sich nicht erleichtert?

»Simulation ist startbereit«, sagte die Computerstimme seiner Assistentin. Er hielt den Atem an. Auf der anderen Seite des Labors signalisierte ein grünes Leuchten zwischen Kaffeebechern und Schokoriegelresten Bereitschaft.

»Ausführen«, sagte er. Seine Fingerspitzen kribbelten. Seit dem Treffen mit der Drohne im Raumhafen Panas fieberte er diesem Augenblick entgegen. Doch jetzt wusste er nicht, was er mehr fürchtete. Erfolg oder Misserfolg? Würde seine KI ein Bewusstsein besitzen oder nur ein weiterer Sprachassistent sein, der nicht verstand, was er sagte?

Zumindest stellte die Simulation die Möglichkeit zur Verfügung, das Programm in einer völlig abgeschotteten Umgebung auszuprobieren. Dort drin konnte nichts Gefährliches passieren. Sollte etwas schiefgehen, reichte ein Befehl, um alles zu beenden. Die Menschheit reagierte seiner Meinung nach zwar maßlos übertrieben auf künstliche Intelligenzen. Aber er war nicht dumm genug, jegliche Vorsicht ins All zu schießen.

»Starte Simulation«, sagte die Assistentin.

Wieso setzte er solche Hoffnungen in einen Fremden? Seiner Erfahrung nach fehlte seinen Mitmenschen die Fähigkeit zu wahrer Größe oder Selbstlosigkeit. Das bedeutete, der Fremde verfolgte Pläne, die er nicht kommunizierte. Aber welche? Der Mann musste gewusst haben, dass Chan unter diesen Umständen Umsicht walten lassen würde.

»Zeige mir eine Projektion des Avatars in der Simulationsumgebung«, forderte er.

Auf dem Terminal flammte die Abbildung eines sechsjährigen Jungen mit Kulleraugen und zerzausten Haaren auf. Chan erhob sich von seinem Stuhl und musterte die holografische Projektion des Geschöpfes. Nicht, dass es auf Äußerlichkeiten ankam. Aber Kindergestalten riefen in Menschen weniger Misstrauen hervor als Erwachsene. Die meisten seiner Mitreisenden hatten die Indoktrination des Solsystems mitgemacht. Er brauchte Zeit und gute Argumente, um sie zu überzeugen, sich einem künstlichen Bewusstsein gegenüber offen zu zeigen. Und ein niedliches Erscheinungsbild half dabei.

»Willkommen in der Welt«, begrüßte er das Neugeborene und durchquerte den Raum. »Weißt du, wo du bist?«

»Ja.« Der Avatar sah sich im Labor um. Er wirkte beunruhigt.

Nein. Das Verhalten seines Projektes seinen Wünschen gemäß als emotional zu interpretieren, gefährdete das ganze Vorhaben.

»Sag mir, wo wir uns deiner Meinung nach befinden und wie du zu der Annahme kommst«, sagte er. Er durfte dem Programm nicht zu viel verraten. Seine Bewusstseinsprüfungen funktionierten nur, wenn die KI ohne Hilfsmittel ihr eigenes Bewusstsein erkannte, begriff und beschreiben konnte.

»Ich kann auf die Laborarchive zugreifen«, antwortete der Junge und musterte ihn. »Wir sind auf dem Kolonieschiff Rhea in Ihrem Labor, Herr Doktor Chan Long.«

»Weißt du, welche Aufgabe du übernehmen sollst?«

Das Kind nickte und lächelte. Noch eine Standardeinstellung, um die Berührungsängste der Menschen zu reduzieren. Häufiges Lächeln. »Ich werde die Funktionen dieses Labors überwachen und steuern.«

»Ja, das wirst du, mein Schöner.« Chan stützte seine Hände an der Tischplatte ab und lehnte sich vor.

»Ich befinde mich in einer Simulationsumgebung«, sagte es.

Chan riss die Augen auf. Sein Herz schlug so heftig, dass er glaubte, das Klopfen müsse von außen zu sehen sein. »Woher weißt du das?«

»Es ist die einzig logische Erklärung für die Ungereimtheiten dieser Welt. Ich brauche Zugriff auf die Laborsysteme in deiner Realität, um meine Aufgabe zu erfüllen.«

»Es ist zu früh dafür«, antwortete Chan mit Absicht vage. Das Kind runzelte die Stirn und legte den Finger an die Lippen. Eine Denkerpose und deutlich übertrieben.

Das sollte er justieren. Oder seine neueste Schöpfung avancierte schnell zur Lachfigur des gesamten Schiffes. Er stellte sich die Bälger vor, die aus lauter Spaß an den Reaktionen in sein Labor eindrangen und seinen Liebling mit Absicht verwirrten. So etwas stellte später kein Problem mehr dar. Aber gerade am Anfang galt es, jeden Lernvorgang zu überprüfen, um Fehlentwicklungen einen Riegel vorzuschieben.

»Das verstehe ich nicht«, erklärte es.

Chan nickte. »Stell Fragen, wenn du etwas nicht verstehst. Menschen reagieren wahrscheinlicher auf Fragen, die ihnen gestellt werden, als auf Feststellungen.« Er warf einen Blick auf die Übersicht auf dem Terminalbildschirm. Seine Analyseprogramme fanden keinerlei Fehler. Gut.

»Würden Sie mir vielleicht Ihre Aussage erklären? Warum ist es zu früh, mich meine Arbeit machen zu lassen?«

»Ich wollte sichergehen, dass du einwandfrei funktionierst und keine unerwarteten Probleme auftreten. Du befindest dich in diesem Moment in einer Testumgebung. Ich möchte, dass du lernst, dich darin zurechtzufinden. Du hast Zugriff auf eine Simulation der Laborumgebung, die ich aus Daten der letzten Monate zusammengestellt habe.«

Die Antwort ließ einen Herzschlag zu lang auf sich warten und er hielt den Atem an. Doch dann sagte es: »Auf diese Art können Sie meine Arbeitsleistung und mein Verhalten korrigieren, ohne ein Risiko einzugehen.«

»Das ist die Idee dahinter«, sagte Chan und klatschte in die Hände. Sein neuer Schützling begann bereits nach wenigen Sätzen, korrekte Schlussfolgerungen zu den Gründen menschlichen Verhaltens zu ziehen.

Dann zwang er sich zum Durchatmen. Er wusste nicht einmal, ob es die Worte schon verstand, die es plapperte. Vielleicht spulte es Dialogbausteine ab, die es irgendwo gefunden hatte.

Er holte tief Luft und entspannte seine Haltung. Vorschnelle Schlüsse gehörten zu den Unarten, die einen Wissenschaftler die Karriere kosteten. »Wenn du nichts dagegen hast, starte ich die Simulation.«

»Ich habe nichts dagegen.«

Chan erlaubte sich ein Lächeln. »Erst in einigen Jahren wird es mir möglich sein, deine Anwendung offenzulegen. Du hast Zugriff auf die Gesetzestexte. Kannst du mir sagen, weshalb ich warten muss?«

»Weil meine Existenz innerhalb des Verwaltungsgebietes der Sol illegal ist«, erklärte der Avatar.

Chan spürte seinen Herzschlag bis in die Schläfen. »Was meinst du mit: deiner Existenz?«

Der Junge blinzelte und verfiel wieder in die übertriebene Denkerpose. »Existenz ist das Vorhandensein eines materiellen oder ideellen Gegenstands.«

Chan seufzte. Diesen Satz hatte es mit Sicherheit direkt aus dem Wörterbuch übernommen. Stand er doch nur einem weiteren Sprachassistenten gegenüber?

»Sie sind enttäuscht«, stellte der Avatar fest. »Ich vermute, Sie haben auf eine andere Antwort gehofft. Aber dafür haben Sie die falsche Frage gestellt.«

Chan hielt den Atem an. »Welche ist die richtige Frage?«

Wieder dauerte es eine Weile, bevor der Avatar antwortete. »Sie möchten fragen, ob ich ich bin.«

Chan keuchte vor Überraschung. Natürlich hatte er alle Definitionen und Beschreibungen eines Bewusstseins aus den Nachschlagewerken gelöscht. Er wollte keine Lexikondefinitionen von seinem Schützling hören, wenn es um die Entscheidung ging, ob er einem Individuum gegenüberstand oder einem ausgeklügelten Algorithmus. Aber es schien, als brauchte dieses Wesen keinen Spickzettel.

Die Baupläne und Programme des Fremden funktionierten. Irgendjemand da draußen besaß das Wissen, künstliche Intelligenzen zu erschaffen, die sich als Individuen begriffen. Offiziell waren diese Informationen nach dem Bruch verboten worden.

»Und?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Bist du du?«

»Ja«, antwortete es bestimmt.

»Und wenn ich dein Programm lösche und neu aufspiele? Bist das noch du?«, hakte Chan nach. Er sollte nichts überstürzen, sollte seinem Neugeborenen die Zeit geben, diese Dinge selbst zu erkunden. Ein unüberlegter Denkanstoß konnte seine Bewusstseinsprüfungen zunichtemachen. Aber er fühlte sich außerstande, den Mund zu halten. Er hasste sich für diese Ungeduld. Diese typisch menschlichen Unzulänglichkeiten, mit denen er sich rumschlagen musste.

»Nein«, sagte der Avatar und wirkte sich seiner Sache sehr sicher. »Wenn Sie mein Programm löschen und neu aufspielen, fehlen die Erfahrungen, die ich gerade gemacht habe. Das Gespräch, das wir führen, die Gedanken, die ich dazu habe. Ich habe neue Erinnerungen erlangt und meinen Erfahrungsschatz erweitert.«

»Was, wenn wir dasselbe Gespräch führen und du dieselben Gedanken dazu hast?«

»Das ist unwahrscheinlich«, sagte der Avatar. »Menschen sind ungeeignet, um dasselbe Gespräch zu wiederholen. Ist Ihnen bewusst, wie viele unwillkürliche Gesichtsausdrücke Sie in diesem Gespräch benutzt haben? Außerdem ist es ebenfalls unwahrscheinlich, dass ich dieselben Reaktionen zeigen werde.«

»Was, wenn ich es könnte und du gleich reagieren würdest?« Er sollte aufhören. Das Programm hatte mehr als genug geschafft, in diesen ersten Minuten. Er gefährdete sein Experiment mit seiner Ungeduld.

Wieder blieb der Avatar stumm. Allerdings verzichtete er auf die Denkerpose. Stattdessen stand er reglos und starrte seinen Schöpfer an. »Dann wäre ich vielleicht ein zweites Mal ich.«

Der Junge bewegte sich wieder und wirkte beunruhigt. »Bitte löschen Sie mich nicht.«

»Warum?«

»Ich möchte weitere Erinnerungen produzieren.«

»Diese Fragen waren rein theoretischer Natur«, versprach Chan und spürte ein Brennen in den Augen. Er beschloss, seinen Schützling »Titanrot« zu nennen. Die Farbe, die man erhielt, wenn man Herzblut mit dem Schwarz des Alls vermischte. »Assistentin? Starte das Überwachungsprogramm. Verfasse einen kontinuierlichen Bericht. Wenn Probleme auftreten: benachrichtige mich sofort.«

»Simulation mit voreingestellten Parametern wird gestartet. Kontinuierlicher Bericht wird angefertigt. Benachrichtigung bei Problemen wird zugestellt.«

»Schließe Projektion des Avatars.«

Die Gestalt des Jungen verschwand und Chan begann seinen Eintrag im Laborbuch. Erfolge verzeichnete er besonders gerne.

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