Kitabı oku: «Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext», sayfa 4

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2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich

Wie die Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey in ihrer Studie zur Wirkungschance von Intellektuellen in Ereignis- und Handlungskonstellationen der deutschen und französischen Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert unter Bezugnahme auf Max Weber und Pierre Bourdieus Feldtheorie herausstellt,

problematisieren die Konstellationsanalysen die Rolle des Intellektuellen als Vordenker und Vermittler von Deutungs-, Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata der sozialen Welt. Sie rekonstruieren politische Interventionsschemata sowie Distinktions- und Definitionskämpfe um das Mandat des Intellektuellen.1

Nach Bourdieu besteht eine Interdependenz zwischen der Autonomisierung des literarischen bzw. kulturellen Feldes im 19. Jahrhundert und der Genese des Intellektuellen, nämlich in Form des den Anschluss an soziale und politische Gesellschaftsproblematiken suchenden Schriftstellers oder Künstlers.2 So erklärt er, dass sich auch die Frage nach dem literarischen Engagement erst konkretisiert, nachdem sich die völlige Trennung zwischen Kunst bzw. Literatur und dem sozialen und politischen Bereich der Gesellschaft vollzogen und sich ein autonomes literarisches Feld ausgeprägt hat. Das gesellschaftspolitische Engagement konstituiert somit „eine Erweiterung eines spezifischen kulturellen Handlungsspektrums“3. In diesem Sinn bezeichnet Sartre die Intellektuellen als

une diversité d’hommes ayant acquis quelque notoriété par des travaux qui relèvent de l’intelligence (science exacte, science appliquée, médecine, littérature, etc.) et qui abusent de cette notoriété pour sortir de leur domaine et critiquer la société et les pouvoirs établis au nom d’une conception globale et dogmatique (vague ou précise, moraliste ou marxiste) de l’homme.4

Betrachtet man daran anlehnend den Intellektuellen, dessen Begriffsdefinition sich aufgrund seiner historisch, sozial und situativ determinierten Präsenz stets in einem prozessualen Wandel befindet, im vorliegenden Fall als einen Vertreter aus dem literarischen Bereich, der sich unter Berufung auf eine spezifische Auffassung des Menschen oder ein etabliertes Wertesystem als Gesellschaftskritiker engagiert, so erklärt sich, dass sich das literarische Phänomen des Engagements dennoch auf alle Epochen erstrecken kann und somit weiter zurückreicht als bis ins 19. Jahrhundert:

L’‚engagement‘ est le phénomène littéraire, présent à toutes les époques, par lequel les écrivains donnent des ‚gages‘ à un courant d’opinion, à un parti, ou de manière plus solitaire, s’impliquant par leurs écrits dans les enjeux sociaux et, notamment, politiques.5

Was hier im übertragenen Sinne als ‚Einsatz‘ bzw. ‚Pfand‘ beschrieben wird, bedeutet im Konkreten den Einsatz des in seiner Domäne erworbenen Prestiges. Eine vermittelnde Stellung zwischen dieser gegensätzlichen Auffassung einer historisch begrenzten und einer überzeitlichen Form des literarischen Engagements eröffnet Benoît Denis, indem er den Terminus der „littérature engagée“ dem für ihn mit der Dreyfus-Affäre einsetzenden 20. Jahrhundert vorbehält, wohingegen er die in jeder Epoche existente gesellschaftskritische und politisch intentionierte Literatur als „littérature d’engagement“ bezeichnet.6 Das literarische Engagement konstituiert insofern eine Sonderform, als der engagierte Schriftsteller das Medium der Literatur nicht unbedingt verlässt, um sich als Gesellschaftskritiker zu engagieren:

[I]l y a ‚intervention de l’intellectuel‘ lorsqu’un agent, utilisant et mettant en jeu le prestige et la compétence acquis dans un domaine d’activité spécifique et limité (littérature, philosophie, sciences, etc.), s’autorise de cette compétence qu’on lui reconnaît pour produire des avis à caractère général et intervenir dans le débat sociopolitique. La fonction intellectuelle tend dès lors à se superposer aux fonctions traditionnellement dévolues à l’écrivain et à l’écriture. Il s’opère une redistribution des rôles, au terme de laquelle la littérature voit paradoxalement son prestige renforcé (l’écrivain qui fait œuvre d’intellectuel reste un écrivain et c’est ce prestige-là qu’il met en jeu dans son intervention), alors même que sa distance à l’actualité politique et sociale s’accuse encore, puisque l’intellectuel accapare le champ de l’intervention sociopolitique.7

Auch bei Michel Winock gehören die bereits erworbene gesellschaftliche Anerkennung, die Positionierung in der Öffentlichkeit und die Erweiterung des kulturell spezifischen Handlungsbereichs, die von ihm als „transfert de notoriété“8 bezeichnet wird, zu den Hauptmerkmalen des Intellektuellen,

der eine Reputation erworben hat oder anerkannte Kompetenzen im kognitiven oder kreativen, wissenschaftlichen, literarischen oder künstlerischen Bereich besitzt und seinen Status benutzt, öffentlich zu Fragen Stellung zu nehmen, die nicht sein Spezialgebiet, sondern die gesamte politische Gemeinschaft betreffen, der er angehört.9

Winock begrenzt in seiner Definition das intellektuelle Engagement auf die öffentliche Stellungnahme zu gesellschaftspolitisch relevanten Fragen, wohingegen Sartre das Engagement als Form der Gesellschaftskritik auf der Basis einer philosophisch fundierten Auffassung vom Menschen beschreibt. Julliard/Winock konkretisieren das gesellschaftspolitische Engagement unter Berufung auf die Intentionalität des Engagements in einer weiteren Beschreibung des Intellektuellen als „un homme ou une femme qui, à travers cette activité, entend proposer à la société tout entière une analyse, une direction, une morale que ses travaux antérieurs le qualifient pour élaborer.“10 Orientiert an der Einbindung des intellektuellen Engagements in den gesellschaftspolitischen Kontext unterscheidet Winock in einer idealtypischen Klassifizierung zwischen drei möglichen Interventionsformen, repräsentiert durch den kritischen Intellektuellen, der die politische, rechtliche und religiöse Autorität in Frage stellt, den organischen Intellektuellen, der das etablierte Regime verteidigt, und den parteilichen Intellektuellen, der einem neuen Regime bzw. einer neuen Partei zum Aufstieg verhelfen will.11 Winocks Darstellung der intellektuellen Intervention als öffentliche Stellungnahme setzt zudem eine in der Öffentlichkeit diskutierte Fragestellung oder Thematik oder ein Ereignis voraus, das den Intellektuellen in einen Diskurs involviert, in dem er eine für die Gesellschaft richtungsweisende Perspektive vorzugeben anstrebt. Nach Franzmann handelt es sich um eine Krise des öffentlichen Konsenses, der sich der Intellektuelle mit seinem spezifischen „Krisendiskurs“12 zuwendet.

Die Interdependenz zwischen Intellektualität und Öffentlichkeit manifestiert sich vor dem Hintergrund öffentlicher Transformationsprozesse. Wie eingangs skizziert, löst Mai ’68 einen Funktionswandel der Intellektuellen aus und repräsentiert einen Bruch mit der Rolle, die sie bislang in der Gesellschaft wahrgenommen haben. Als spezifische Krise des französischen Universitätssystems und damit der französischen Intelligenz beschreiben Ory/Sirinelli das Aufbegehren der Studierenden als „surrection de la jeunesse intellectuelle contre ses pères les plus officiels, mais qui, portée par l’exemple de quelques maîtres bien précis, reçut le ralliement fasciné de plusieurs grands noms de la haute intelligentsia établie“13. Dazu zählen für die beiden Verfasser insbesondere Jean-Paul Sartre, „se situant une fois de plus au centre des tendances intellectuelles du temps“14, und in dessen Folge beispielsweise Michel Foucault, Maurice Clavel und Jean Genet, auch wenn durch diese undifferenzierte Inbezugsetzung zu Sartre deren Wechselbeziehungen und geistiger Austausch nur angedeutet werden:

Mais un tel raisonnement [celui de Sartre, S.I.], partagé dans les premières années qui suivirent Mai par un Maurice Clavel (1920–1978), un Michel Foucault ou un Jean Genet (1910–1986), pour ne citer que trois personnalités assez représentatives de trois différentes légitimités intellectuels – un ‚journaliste‘, un ‚philosophe‘, un ‚poète‘ – n’était pas sans influer à son tour sur l’œuvre même de ses personnages.15

Als Trias unterschiedlicher intellektueller Legitimitäten dargestellt, muss zum einen die damit verbundene Differenzierung deren Funktionen im öffentlichen Raum und zum anderen die jeweilige persönliche Entwicklung und Haltung gegenüber der Rolle des Intellektuellen berücksichtigt werden. So betreten Foucault und Genet im Gegensatz zu Sartre in den années 68 zum ersten Mal die politische Bühne, schaffen jedoch jeweils eine Rückbindung an ihr bis dahin veröffentlichtes Werk und theoretisieren ihr Engagement entsprechend ihrem spezifischen Interessenbereich.

Gilcher-Holtey betrachtet Mai 1968 als soziale Bewegung, deren kognitive Konstitution nicht allein durch eine Universitätskrise determiniert wird.16 In ihrem Verständnis beziehen die Trägergruppen einer Bewegung ihre kognitive Identität prozessual durch „die Herausbildung einer internen Kommunikationsstruktur, eines symbolischen Systems der Selbstverständigung und der Selbstgewissheit, die Handlungsrichtung und intersubjektive Handlungsbereitschaft bestimmen.“17 Diese Form des Austausches bezeichnet sie als „kognitive Praxis“, die „durch Ordnungsentwürfe von Intellektuellen und ihre Umsetzung in handlungsrelevante Zielvorstellungen“18 determiniert werde. Wenn auch die Rolle der etablierten Intelligenz im Mai 1968 als sekundär zu bezeichnen ist – weder Sartre noch Foucault oder Genet waren in der Bewegung –, so greift sie doch Teilelemente der Bewegung auf und führt sie weiter, wie beispielsweise die Schaffung des G.I.P. und des darin symbolisierten neuen Interventionsschemas zeigt. Im Lichte von Winocks Klassifizierung unterschiedlicher intellektueller Interventionsformen legen sie als Befürworter der sozialen Umbrüche und Proteste ihre eigene Funktion grundsätzlich entsprechend der des kritischen Intellektuellen aus, indem nämlich politische und vor allem rechtliche Autoritäten angezweifelt werden. Dabei zielen sie jedoch unter Einwirkung der öffentlichen Transformationsprozesse darauf ab, neue Handlungskonzepte zu entwerfen. Gilcher-Holteys Ausführungen in Eingreifendes Denken zufolge werden die Distinktions- und Positionskämpfe im intellektuellen Feld am Ende des 20. Jahrhunderts durch drei konkurrierende Typen des Intellektuellen determiniert, die den Diskurs maßgeblich prägen: der ‚allgemeine‘, der ‚revolutionäre‘ und der ‚spezifische‘ Intellektuelle.19 Diese intellektuellen Handlungsentwürfe entstehen in Reaktion auf die gesellschaftliche Situation des Umbruchs und vermitteln unterschiedliche Deutungs- und Wahrnehmungsformen der sozialen Welt. Im Gegensatz zu Sartres durch die Maiereignisse transformierter Rolle des ‚universellen‘ Intellektuellen und Foucaults Ideal des ‚spezifischen‘ Intellektuellen, welche auf theoretisch fundierten und hergeleiteten Konzepten des politischen Engagements basieren, bleibt Genets Reaktionsform nur schwer klassifizierbar, wie in der sich anschließenden vergleichenden Analyse ermittelt werden soll. Julliard und Winock widmen ihm einen Artikel im Dictionnaire des intellectuels français, in dem die Unabhängigkeit als Schlüssel seines politischen Engagements benannt wird: „L’indépendance est la clé de son parcours intellectuel. […] Il renouvelle le modèle sartrien de l’écrivain engagé en refusant de se substituer aux hommes politiques et en choisissant les causes qu’il défend pour des raisons intimes et personnelles.“20 Genets politisches Engagement muss an jenen Merkmalen ausgerichtet werden, die den Intellektuellen allgemein kennzeichnen, nämlich an seinem in einem anderen Bereich erworbenen Prestige und an dessen zielorientiertem Transfer in die politische Öffentlichkeit zugunsten einer gesellschafts- und handlungsrelevanten Richtungsweisung. Dabei müssen seine Haltung zum eigenen Prestige und zu dessen Wirkungskraft in der Öffentlichkeit ebenso beleuchtet werden wie seine Positionierung zur intellektuellen Interventionsform und ihren unterschiedlichen Ausprägungen.

2.1 Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit: Zwischen revolutionärer Emblematisierung und Anonymitätsgebot

Die gesellschaftlichen Veränderungen, welche sich in den Protestbewegungen der 1960er und 1970er widerspiegeln und durch diese vorangetrieben werden, zwingen die Intellektuellen zu einer Redefinition ihrer eigenen Funktion. Ein Widerspruch der sich auflehnenden Generation ist die offensive Ablehnung jedweder Autoritäten und Idole einerseits und der Prozess der Emblematisierung einzelner Persönlichkeiten zu Ikonen und Leitbildern der Protestbewegungen andererseits. Es wird ein grundsätzlicher Verzicht auf Idole und theoretische Ideengeber postuliert, die als Produkte der Konsumgesellschaft wahrgenommen werden. Dieses eigentümliche Paradox des Oszillierens zwischen der Ablehnung des Personenkultes und der Ikonisierung politischer und lebensweltlicher Vorbilder wird auch in Genets frühen politischen Reflexionen thematisiert und kennzeichnet somit seinen Eintritt in die gesellschaftspolitische Öffentlichkeit im Mai 1968. Die Unterstützung verschiedener revolutionärer Bewegungen mittels seines als Autor erworbenen Prestiges, wie sie unter anderem bei Benoît Denis als typisches Merkmal der intellektuellen Intervention beschrieben wird,1 bedingt die Furcht vor einer Instrumentalisierung seiner Person zu politisch-ideologischen Zwecken sowie vor der Defiguration seines Namens. Diese Problematik ist Gegenstand eines frühen journalistischen Kommentars über Genets Haltung zur Studentenrevolte von Mai 1968, der ein Interview mit Jean Genet im Rahmen seiner Einladung durch das comité d’agitation culturelle der Sorbonne beinhaltet.2 Das Aktionskomitee wurde am 13. Mai 1968 mit dem Ziel der Schaffung einer neuen Kultur gegründet und fordert von allen Kunstschaffenden die „auto-élimination“.3 Der Autor des in der Zeitung Combat erschienenen Artikels, Jean Lebouleux, betont in einem lobenden Kommentar, dass Genet sich des Versuchs der Instrumentalisierung seiner Person zu einem Idol der Studentenbewegung mit den Worten „[j]e ne veux pas être une idole, je suis un homme comme tout le monde“4 erwehrt. Genets Zurückhaltung während der Studentenunruhen wird sehr positiv aufgenommen, wie auch folgender Vergleich eines anwesenden Studenten mit Sartre belegt, der sich am 20. Mai im Auditorium der Sorbonne den Studierenden zum Dialog zur Verfügung gestellt hatte:5 „Sartre était un opportuniste, Genet est un poète.“6 Lebouleux kritisiert das Phänomen der Emblematisierung als einen der Konsumgesellschaft inhärenten Prozess:

L’idole est un des produits de la société de consommation remise en question par les événements actuels. Il était donc normal que la révolution, si révolution il y a, supprime ce mythe. Or la conduite du comité d’agitation culturelle de la Sorbonne ou du moins de l’un de ses membres apparemment influent, hier, envers Jean Genet, est une véritable tentative de récupération. On veut montrer l’idole aux peuples, une idole de la liberté sans doute, mais un personnage mythique que chacun voulait approcher.7

Der Versuch einer Instrumentalisierung Genets zum enragé geht jedoch auch von der Zeitschrift Combat selbst aus, die ihm während der Demonstrationen im Mai mehrere Artikel widmet, so dass Lebouleux’ Artikel als Kulminationspunkt dieser Problematik betrachtet werden kann. Die Zeitung beansprucht für sich eine singuläre und wegbereitende Positionierung innerhalb der 68er Bewegung, wie aus folgendem Leseraufruf ersichtlich wird:

Seul de tous les journaux parisiens, Combat a compris, a expliqué, a soutenu le grand mouvement contre lequel le pouvoir a jeté ses matraques. […] Nous sommes contre tous les Springer, contre ceux de l’Argent et du Dogme, nous sommes devenus nous aussi une ‚poignée d’enragés‘.8

Das Attribut des enragé, welches sich die Zeitung als autoreferentielles Merkmal selbst zuschreibt und in der Berichterstattung des Monats Mai auch vor allem die Opfer polizeilicher Übergriffe bezeichnet,9 wird in einem Artikel mit dem Titel „Saint-Genet, l’enragé“ auch Genet zuteil. Darin ergeht ein expliziter Appell an den Autor, zu einer symbolischen Figur der Barrikadenkämpfe zu avancieren: „Je demande à Genet d’être notre Courbet.“10 Der Artikel präsentiert Bruchstücke verschiedener Äußerungen Genets, die seine Teilnahme an den studentischen Demonstrationen belegen. Dabei lässt der Verfasser des Artikels Genets Zitate mit deskriptiven Einschüben über den Gesang eines „jeune terroriste [qui] chante, tel Néron, les flammes qui réjouissent la Ville“11 alternieren. Neben der metaphorischen Verankerung Genets in der Revolutionsgeschichte durch den Vergleich mit der historischen Persönlichkeit Courbets erfolgt seine Instrumentalisierung somit über die Selektion und Verknüpfung ausgewählter Aussagen, welche als Aufruf zur Demolierung der Stadt Paris inszeniert werden. Das sich in diesem Mechanismus widerspiegelnde diffuse, assoziative Wissen über dessen Persönlichkeit transformiert ihn zu einer Projektionsfläche revolutionärer Zielsetzungen. Das Emblem des enragé lehnt Genet jedoch ab, wie aus der am darauffolgenden Tag publizierten Rektifikation des Journalisten hervorgeht:

[J’]ai publié, hier, sous le titre de „St. Genet l’Enragé“ [sic!] des bribes de phrases contre lesquelles Genêt [sic!] a protesté. Parce qu’il ne veut pas désavouer le rôle joué par «Combat» dans cette Révolution, et parce qu’il ne veut pas de la ‚niche‘ que je lui faisais à travers ces quelques phrases, Jean Genet a refusé le rôle de terroriste inquiétant et solitaire. Parce que je comprends le sens de sa démarche, parce que la probité intellectuelle l’exige et parce que, surtout, je suis militant de notre lutte, je me désavoue moi-même.12

Genets Verzicht auf eine Sonder- bzw. Nischenstellung innerhalb der Protestbewegung wird als Wunsch nach intellektueller Rechtschaffenheit gedeutet. In seinem Artikel über Genets Besuch in der Sorbonne am 30. Mai 1968 stellt Jean Lebouleux bezeichnenderweise den Aspekt des Personenkultes in den Vordergrund seines Berichtes. So zitiert er in verkürzter Form, was Genet als Essenz der Revolution präsentiert, nämlich das Ausmerzen der sozialen Phänomene des Geldes und des Namens:

J’ai compris le sens plus profond de ce qui n’était qu’une révolte et devenait le sens même de la révolution c’est à dire [sic!] la remise en question de toutes les formes sociales dans lesquelles nous vivons. Mon avis? Je crois qu’il faut supprimer deux éléments importants: l’argent et le nom.13

Vermittels der in diesem Artikel bereits angerissenen Problematik des Namens reflektiert Genet seine eigene Rolle und Funktion in der gesellschaftspolitischen Öffentlichkeit. Das Geld und der Name als Symbole des Prestiges und der öffentlichen Anerkennung werden hier im Kontext der Kritik an der einengenden Charakteristik von Symbolen und Emblemen problematisiert: „Le fait d’avoir un nom même peu célèbre m’opprime. Hélas, je ne sais pas comment changer cela. Quant à l’emblème, il ferme, il clot [sic!], même s’il exalte.“14 In einem Interview mit José Monleón der spanischen Zeitschrift Triunfo von 1969 anlässlich einer Inszenierung seines Theaterstücks Les Bonnes durch Victor Garcia und die spanische Theatergruppe Nuria Espert im Théâtre de la Cité Internationale konkretisiert Genet diesen Zusammenhang:

El problema que me plantea mi nueva situación es terrible. ¿Qué hacer para deshacerme de todo el dinero que recibo? ¿Qué hacer para deshacerme de un nombre que resulta cada vez más abrumador? Ese es mi gran problema actual. Yo creo que para un hombre existen dificultades que proceden del dinero. Cuando lo tiene en cantidad se convierte en dominador. Si, además, posee un nombre repetido a menudo en todas partes, ese nombre se hace tiránico.15

Genet beschreibt die negativen Auswirkungen des Geldes und der Berühmtheit auf die Persönlichkeit, welche einen sozialbedingten Transformationsprozess des Individuums auslösen: Es wird zum Herrscher und zum Tyrann. Die Tyrannei des Namens betrachtet er auch als Grundlage seines eigenen Interviews: „Un ejemplo podría ser lo que está pasando aquí ahora; se yo no me llamase Jean Genet, ustedes no estarían conmigo. ‚Ejerzo, pues, sobre ustedes, una especie de tiranía debido a mi nombre. Y eso necesito destruirlo‘.“16 Die Funktion des Eigennamens wird von Genet einerseits in Bezug auf seine Rolle als öffentliche Autorität problematisiert, andererseits aber auch in Hinblick auf den Autor-Werk-Konnex im spezifisch literarischen Bereich, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst von der Publikation literarischer Texte absah. So erweitert er diese Problematik auf das Konzept des literarischen Eigentums in einem Brief, der laut dem Ausstellungskatalog aus Tours zunächst an die Société des auteurs adressiert war,17 welche im Mai 1968 aus der Société des gens de lettres mit Standort im Hôtel Massa hervorgegangen ist. Das Konzept des literarischen Eigentums vereint das Zusammenspiel von gesellschaftlicher Anerkennung und Besitzverhältnissen, welches Genet bereits in seiner frühen Kritik unter den Schlagwörtern des Geldes und des Namens resümiert hat. Malgorn kontextualisiert diesen auch bei ihm abgedruckten Brief im Zusammenhang zweier Theaterinszenierungen und stellt ihm einen Brief an den mit Genet befreundeten Regisseur Antoine Bourseiller voran:

Victor Garcia vient me voir. Afin de lui faciliter les moyens d’obtenir de l’argent pour jouer Le Balcon à Paris, il me demande, et je lui donne mon accord, selon les règles que nous récusons, je le fais et ce n’est qu’un tour de passe-passe, et je vous préviens, parce qu’autour de vous, tout va tenter de maintenir la fiction d’une pseudo propriété artistique ou théâtrale, protégée par le nom de l’auteur, par la signature de l’auteur. Il est donc possible que je galvaude encore cette signature de ‚l’œuvre‘. Pour vous, pour Garcia et pour moi, la seule réalité de nos rapports est là, dans ce texte que j’ai signé avec vous et votre troupe le 19 février 1969.18

Der Brief an die Société des auteurs steht folglich im Kontext der Inszenierung des Stückes Le Balcon durch Antoine Bourseiller in Marseille 1969 und stellt den Begriff des literarischen Eigentums in Frage, welches in der Signatur und nominalen Zuschreibung eines Werks zum Ausdruck kommt. Unklar bleibt jedoch, warum Genets und Bourseillers Text sich an die Société des auteurs richtet. Genets kritisches Verhältnis zu dieser Gesellschaft manifestiert sich in seinem ironischen Kommentar zur Besetzung der Vorgängerinstitution durch einige bekannte Autoren: „[À] quoi bon occuper un cimetière? À moins de remplacer de vieux morts par de jeunes morts.“19 Wie Christian Charrière in ebenso scharfzüngigem Tonfall berichtet, besetzen unter anderem Michel Butor und Nathalie Sarraute das Hôtel Massa, „réalisant enfin le vieux rêve des intellectuels de marier l’action et la pensée […] pour manifester leur solidarité avec les étudiants et les ouvriers.“20 Ziel dieser neu gegründeten Autorengemeinschaft sollte die Verbindung der Literatur mit den als revolutionärer Prozess wahrgenommenen Bewegungen sein. So zitiert Charrière das Credo der Société des auteurs: „Ouverte à tous ceux qui considèrent la littérature comme une pratique indissociable du procès révolutionnaire actuel [c]ette Union sera un centre permanent de contestation de l’ordre littéraire établi.“21

In seinem Brief problematisiert Genet die von ihm als feudales System beschriebene Beziehung zwischen dem Autor und seinem Werk, welche auf der Unterschrift bzw. dem Namen des Autors basiert und dessen Substitution er anstrebt: „C’est par une voie plus subtile que celle qui s’établit à partir d’une prétendue propriété littéraire – ou dramatique, ou artistique – que nous allons essayer d’instaurer entre un très aléatoire auteur et notre troupe, un accord différent.“22 Die Tyrannei des Namens scheint für Genet aus einer semiotischen Geschlossenheit des Eigennamens zu resultieren, den er metaphorisch als „une sorte de repaire, un silo à grain, un sanctuaire chinois, où personne d’autre que le signataire ne pourrait tirer avantages“23 charakterisiert. Die von Genet als gefährlich geschilderte, sich proportional zum Erfolg verhaltende ‚Aufladung‘ des Eigennamens wird in diesem Text in Bezug auf das Konzept des literarischen Eigentums bewertet, das er als unzeitgemäß beschreibt: „De plus en plus, elle [la propriété littéraire, S.I.] se rattache à un nom (le nom de l’auteur) alors que le nom recouvre de moins en moins une œuvre originale, si l’on accepte qu’‚un esprit de l’époque‘ soit à l’origine de toute œuvre originale.“24 Denn obwohl die Vorstellung eines gemeinsamen Geistes der Epoche die Originalität von Individualwerken grundsätzlich widerlege, würden einzelne Werke stärker denn je mit Autorennamen in Verbindung gebracht. Genets Kritik kann unter diesem Gesichtspunkt in Bezug zu Barthes’ in dessen gleichnamigem Artikel beschriebenem Postulat der „mort de l’auteur“25 gesetzt werden, in dem er die durch die kapitalistische Ideologie fundierte tyrannische Zentrierung der Literatur um den Autor kritisiert. Ähnlich wie auch Barthes, für den im Tod des Autors die Geburt des Lesers liegt,26 kritisiert Genet, dass der mandarinale Respekt vor dem Eigennamen des Schriftstellers die Qualitäten und Mängel seines Werks für den Leser verberge. Stattdessen plädiert Genet für die künstlerische Anonymität, welche die Sensibilität des Publikums schärfe:

[Q]u’en face d’accords nouveaux, et d’une œuvre non signée, le public y gagnera en sensibilité, nous le savons bien, nous […] qui avons visité des musées Chinois et Japonais et qui après les plus beaux tableaux nous avons cherché la signature et n’avons découvert que cette mention „anonyme“ du XVIᵉ siècle, et que notre émotion en était augmentée.27

Genets Vision einer neuen (literarischen) Übereinkunft, die nicht mehr auf der Autorität des Unterzeichnenden beruht, sondern auf einer Steigerung der Bedeutung des Betrachters, muss als Synthese seiner im Mai ’68 einsetzenden Reflexion über die oppressive Macht des Namens und des Prestiges verstanden werden und weist, wie gezeigt werden soll, Analogien zu Foucaults Vorstellung des Autors auf. Das Gebot der Anonymität versteht Genet als Grundlage jener neuen Beziehung, die er im ersten Satz des Briefes als „accord différent“ zwischen jenem „très aléatoire auteur et notre troupe“28 ankündigt. Die Konzepte der Anonymität und der Zufälligkeit, die hier von Genet als Substitute der Individualität und Authentizität des Autors postuliert werden, lassen einen bewussten Pakt zwischen Autor und Leser gar nicht erst zu, wobei die Vorstellung eines Paktes sich grundsätzlich Genets ästhetischen und moralischen Grundsätzen widersetzt, wie der nur in Malgorns Transkription erscheinende, abschließende Satz untermauert:

Tous les accords que j’ai pu signer jusqu’à aujourd’hui doivent être considérés comme nuls et non avenus: en accordant sa propre liberté à ce que j’ai pu écrire (pièces de théâtre), je reprends ma liberté à l’égard d’une société dont je dénoncerai tous les pactes.29

In seiner Essenz behandelt der Brief weniger kunstästhetische Aspekte als die Funktion und Bedeutung des Autors und seines Namens. Diese Thematik steht auch im Zentrum von Foucaults Text „Qu’est-ce qu’un auteur?“ von 1969, in dem die Indifferenz gegenüber der Identität des Autors als ethisches Prinzip behandelt wird.30 Foucault diskutiert die Teilaspekte des Namens („le nom d’auteur“), der Aneignung des Werks durch den Autor („le rapport d’appropriation“), der Zuweisung des Gesagten zu einem Werk („le rapport d’attribution“) und der Position des Autors in einem Diskurstyp oder einem diskursiven Feld („la position de l’auteur“).31 Hinsichtlich des Namens konstatiert Foucault, dass er weder eine reine Bedeutung habe noch das Äquivalent einer Beschreibung sei, sondern „entre ces deux pôles de la description et de la désignation“32 zu situieren sei, wobei sich jedoch der Autorenname vom Eigennamen durch seinen besonderen Status unterscheide. Über den Status der Autorität hinaus, kommt dem Autorennamen innerhalb eines Diskurses eine ordnende Funktion zu, insofern er nämlich die Gruppierung, Eingrenzung und Gegenüberstellung von Texten erlaubt. Der Name des Autors charakterisiert einen bestimmten Diskurstyp und fundiert die Bedeutung dieses Diskurses innerhalb der Gesellschaft, der ihn von jenem alltäglichen, flüchtigen und konsumierbaren Diskurs differenziert. Diesen Zusammenhang wird Foucault ein Jahr später in L’ordre du discours im Kontext der die Ereignishaftigkeit und Zufälligkeit des Diskurses bändigenden internen Prozeduren weiter ausführen, wonach der Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen verstanden und als solches abgelehnt wird.33 Eng mit der Bedeutung des Eigennamens verknüpft ist auch für Foucault die Frage nach dem literarischen Eigentum bzw. der Verflechtung von Autor und Werk, welches sich in Foucaults Verständnis als Paradigma einer sich im 17. und 18. Jahrhundert abzeichnenden Wende des Literaturverständnisses herauskristallisiert.34 Während zuvor der Autorenname eine geringere Rolle für die Rezeption bestimmter Texte spielte, avancierte die literarische Anonymität dann zu einem nicht länger akzeptierbaren Faktum. Das Verständnis des Namens als Marker der Individualität und Identität charakterisiert über das Verhältnis des Autors zu seinem als Einheit konzipierten Werk hinaus den literarischen Diskurs und dessen Bedeutung. Die von Foucault aus diskurshistorischer Perspektive beschriebene Autoren-Funktion gleicht aufgrund der historischen Transformationsprozesse keinem Fixum, sondern räumt der Anonymität, jenem „anonymat du murmure“35, stets eine Möglichkeitsexistenz ein. Foucault diagnostiziert vielmehr – ähnlich wie auch Barthes – einen mit Mallarmé einsetzenden Prozess des Verschwindens jener durch die Autoreninstanz gesicherten Charakteristika, nämlich der Individualisierung des schreibenden Subjektes, wodurch ein neues ethisches Prinzip in der Literatur hervortrete.

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