Kitabı oku: «Machtästhetik in Molières Ballettkomödien», sayfa 4
In diesem Zusammenhang ist auf das ebenfalls 1674 erschienene Werk Le théâtre français von Samuel Chappuzeau zu verweisen. Jean-Baptiste Poquelin erscheint darin kurz nach seinem Tod als Genie der Komödie, als ein Autor, dessen Werke innovative Maßstäbe setzen und der auf seinem Gebiet die sich bereits andeutende Querelle des Anciens et des Modernes gegenstandslos macht: „[L]’esthétique de Molière est révolutionnaire, à notre sens, pour avoir, la première, pleinement satisfait à l’esprit de la doctrine classique du genre comique, par delà ses règles et ses dogmes mêmes.“21 Molières Innovation ist zu einem Großteil seinen Ballettkomödien zuzuschreiben, denn dort scheint er die neoaristotelischen Regeln zu überwinden.
Die hier nur in knappen Auszügen dargestellten, aber dennoch aussagekräftigen Regeln und Prinzipien der beiden Regelpoetiken tragen indirekt Elemente zur Gattungspoetik der Ballettkomödie bei und heben einstimmig ihre innovativen Aspekte hervor. Demnach ist die Gattungsfusion poetologisch legitimiert, da Molière die Künstekombination, die Sujetkonformität und das Wahrscheinlichkeitsprinzip seiner Intermedien im Sinne d’Aubignacs weitgehend respektiert und auch Boileaus Forderungen nach Dramenstrukturkohärenz und variatio nachkommt; das Kohärenzprinzip impliziert die Einheitsregel der Werke. Bezüglich der von Boileau bisweilen angeprangerten bienséance-Vorstellungen Molières ist zu erwähnen, dass sich diese nicht im Sinne des Gelehrten auf die antiken, sondern auf die zeitgenössischen Normen beziehen, die vom goût mondain geprägt sind, und von der antikisierten Ansicht Boileaus divergieren. Molière lässt sich nicht in seiner künstlerischen Freiheit beschneiden und triumphiert mit seinen Innovationen jenseits der neuaristotelischen Regelpoetik. Ferner untermauert die 1673 im Mercure galant erschienene Beurteilung durch den Schriftsteller Jean Donneau de Vizé die Legitimation der jüngst geborenen Gattung aus Sicht der Akademien. Es handelt sich um eine der genauesten Definitionen und Einschätzungen in puncto Ballettkomödie seiner Zeit: „Il [Molière, Anm. S.W.] a, le premier, inventé la manière de mêler des scènes de musique et des ballets dans ses comédies et trouvé par là un nouveau secret de plaire qui avait été jusqu’alors inconnu.“22
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die aufgezählten Äußerungen zu Molières Meisterleistung bei zeitgenössischen Kritikern den Eindruck einer innovatio erwecken, verstanden als Steigerung zur aemulatio, aber gleichwohl im Sinne einer autonomen Schöpfung, welche nicht mehr ausschließlich auf das Prinzip der Nachahmung baut, sondern bereits auf eine Vorform des ingenium. Die comédie-ballet reflektiert eine wichtige Schaffensphase im Werk von Molière, die sich einem erschließt, wenn man
diesen großen Dichter nicht nur als den genialen Menschenkenner, Charakteristiker, Moralisten und Satyriker anzusehen [gewillt ist], sondern ihn ebenso in seiner gewaltigen künstlerischen Bedeutung als Meister der Form, der Theatralik und reinen bühnenmäßigen Bewegungskunst zu verstehen versucht.23
1.6 Ein Schauspiel als politischer art de plaire
Donneau de Vizé zufolge gelingt es Molière mit der Ballettkomödie, einen „nouveau secret de plaire“ zu schaffen, ein Unterfangen, das in der Kombination der drei Künste Musik, Tanz und Komödie gründet. Auch Pellisson intendiert in seinem Prolog zu Les Fâcheux, dass es bei dem Spektakel darum gehe, dem König zu gefallen: „Il s’agit de lui plaire […].“1 Der art de plaire ist einer der Hauptstreitpunkte in den Kritiken von 1660 bis 1680, denn daran ist der goût gekoppelt. Die Rezeption der Werke sorgt nicht selten für Zündstoff bei den doctes, den Schiedsrichtern des bon goût: Eine Querelle entfacht, wenn Werke, die gegen die strengen Prinzipien der doctrine verstoßen, dennoch sowohl dem goût der Zeit entsprechen als auch mit dem plaire des Herrschers und mit dem des Publikums korrespondieren. Der Wunsch zu gefallen wird fast in jedem Vorwort großer literarischer Werke angeführt, sodass er zu Zeiten Molières zum erschöpften Topos, zur leeren Formel mutiert. Bei einer epideiktischen Rhetorik besteht der Prolog aus einer Lobrede auf den König oder einer taktvollen Empfehlung des Herrschers, mit der Absicht des Künstlers, sich der Gunst und dem Wohlwollen des Souveräns für die Aufführung gewiss sein zu können. Molière rekonstruiert diesen Gemeinplatz und besetzt ihn neu, wodurch er seine Glaubwürdigkeit als Komödienautor bekräftigt und etwaigen Anfeindungen geschickt vorbeugt. In seiner poetologischen Komödie La Critique de l’École des Femmes lässt er Dorante diesbezüglich sagen:
Je voudrais bien savoir si la grande règle de toutes les règles n’est pas de plaire; et si une pièce de Théâtre qui a attrapé son but n’a pas suivi un bon chemin. Veut-on que tout un public s’abuse sur ces sortes de choses, et que chacun n’y soit pas juge du plaisir qu’il y prend? (CEF, 507)2
Uranies Antwort führt Dorantes Gedanken zum plaire weiter. Sie stimmt ihrem Vorredner zu und merkt ergänzend ein allgemeines Missfallen der zu sehr auf Regelhaftigkeit hin komponierten Komödien an: „J’ai remarqué une chose de ces Messieurs-là; c’est que ceux qui parlent le plus des règles, et qui les savent mieux que les autres, font des Comédies que personne ne trouve belles.“ (CEF, 507)
Indem Molière den plaire zur Kardinalsregel erklärt, wertet er das Vorhaben auf, seinem Publikum zu gefallen, und legitimiert zugleich den goût, denn es kann nur gefallen, was dem Kunstgeschmack entspricht. Damit vereint er die Gegensätze miteinander, erklärt er doch den zeitgenössischen Kunstgeschmack der Rezipienten über den intendierten plaire zur poetologischen Regel. Da der plaire in jener Zeit zum fundamentalen Gesetz der galanten Ethik wird, stellt dessen Erfüllung die wichtigste Aufgabe eines modernen Autors dar, der die Instruktionen den Pedanten von früher überlässt und sich kaum darum kümmert, jene anzunehmen.3 Molière würdigt seine literaturästhetischen Aspirationen hier, indem er anführt, dass das Leben im Umfeld höfischer Kreise „une manière d’esprit, qui, sans comparaison, juge plus finement des choses, que tout le savoir enrouillé des Pédants“ (CEF, 506) entwickele.4 Dieser Gedanke ist gar nicht so fremd, wenn man bedenkt, dass das Publikum la cour et la ville ist, eine dem kulturellen Ideal der honnêteté zugewandte Gesellschaftsschicht, die auf dem Prinzip der raison fußt, also auf jenem Prinzip, nach welchem die doctrine classique aufgebaut ist. Im Grunde existiert daher keine große Opposition zwischen doctrine und goût, denn beide literaturästhetischen Bewertungskriterien orientieren sich an der großen literarischen Tradition der Antike, die im 16. Jahrhundert durch den Humanismus wiederentdeckt wurde.5 Sonach wird dem Dodekameron über den Aspekt der raison implizit eine Regelaffinität attribuiert, eine Art reglementierte Pseudo-Regellosigkeit des guten Geschmacks. Die Tatsache, dass es sich nicht immer vorrangig um ästhetische Differenzen bei den Bewertungsprinzipien handelt, zeigen die immer wieder aufkommenden Querelles in dieser Epoche, die von persönlichen respektive politischen Machtkämpfen gezeichnet sind.
Molière widmet seine Ballettkomödien in erster Linie dem Sonnenkönig und zielt primär auf dessen Geneigtheit ab. Die fehlende Poetik und die daraus nicht ableitbaren Regeln für das neue Genre werden durch die Regel des plaire substituiert, der zum obersten Gestaltungsprinzip avanciert. Somit ermöglicht Molière eine exklusive Beurteilung seiner Werke durch den König und nicht durch die Theoretiker – ein Rezeptionsvorgang, der den Monarchen zum kulturellen Alleinherrscher macht und ihn zum Schiedsrichter des bon goût erhebt. Der königliche Kunstgeschmack infiltriert das Publikum, welches seinerseits bestrebt ist, dem Souverän den art de plaire entgegenzubringen, sodass dabei ein Rückkoppelungseffekt entsteht, den der Sonnenkönig selbst wie folgt beschreibt:
Les peuples, d’un autre côté, se plaisent au spectacle, où, au fond, on a toujours pour but de leur plaire; et tous nos sujets, en général, sont ravis de voir que nous aimons ce qu’ils aiment, ou à quoi ils réussissent le mieux. Par là nous tenons leur esprit et leur cœur, quelquefois plus fortement, peut-être, que par les récompenses et les bienfaits.6
Die Untergebenen gefallen sich in der Rolle der wohlwollenden Rezipienten, weil sie dadurch, dass sie Gefallen signalisieren, dem König huldigen, über ihre stilbildende Funktion ihre Zugehörigkeit zur elitären Gesellschaft bestärken und sich zugleich in der reziproken Spiegelung selbst zum Glanz der Feste machen. Für les classiques ist der art de plaire „un art de vivre et de se rendre heureux en se faisant aimer des autres, au bonheur desquels on a soi-même contribué“7. Daher kann im einzigartigen Charakter der comédie-ballet – sowohl hinsichtlich ihrer künstlerischen Vollkommenheit als auch ihrer machtpolitischen Wirksamkeit – der „nouveau secret de plaire“ liegen. Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der nouveau spectacle aufgrund seiner Konstitution ein nouvel art de plaire absolutistischer Kulturpolitik ist.
Die im Vergleich zu heute spärlich erscheinende Mediatisierung im siècle classique erklärt die Relevanz höfischer Divertissements unter dem Aspekt politisch-strategischer Motive: Die Ballettkomödie repräsentiert die absolutistische Herrschaftsform und trägt im Gegensatz zu Italien, das seine kulturelle Einheit eher über die Oper definiert, zu einem national-einheitlichen Kulturbild Frankreichs, dem neuen Machtzentrum Europas, bei. Die kulturelle Blütezeit, die auf eine lange Tradition des Sprechtheaters in Frankreich aufbaut, wird zum größten Teil durch Farce-, Komödien- und auch Tragödienautoren wie Corneille, Rotrou, Paul Scarron und Jean Mairet bestimmt, die das nationale Theatererbe für Molière liefern. Ebenso spielt der Tanz in der französischen Klassik eine große Rolle, wenn man von einem kulturspezifischen Referenzpunkt des Landes spricht. Die Gattungsfusion aus Sprech- und Tanztheater hat folglich starke nationale Wurzeln, die in ihrem Zusammenschluss eine kulturelle und auch politische Stärke Frankreichs verkörpern. Zudem war diese Fusion im Zuge des Einheitsstrebens zum absoluten Staat nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch dienlich, ließ sich doch so der kulturelle Bereich und die damit verbundene Überlegenheit der Nation auch international demonstrieren. Aleida Assmanns Lichtmetaphorik bezüglich der Konstitution kultureller Machtzentren untermauert den stark auf Visualität hin angelegten Aspekt der klassischen Regierungsform. Zudem verdeutlicht sie den translatio-Charakter der Kulturen, welcher bei der Ballettkomödie gattungstypologisch zum Tragen kommt:
Durch Anschluß an das Alte sollte dem Neuen Macht und Geltung verliehen werden. Diese Reihe besteht aus unterschiedlichen Machtzentren, die nacheinander die Fackel eines einzigen universalen Kulturlichts halten; eine gleichzeitige Blüte mehrerer Kulturen ist ebenso undenkbar wie unabhängige Neuentfaltungen. Das bedeutet, daß sich jede neue Kultur als Fortsetzung und Reinkarnation der einen Kultur versteht.8
Die Ballettkomödie schließt explizit an antike und frühneuzeitliche Traditionen an – verbindet Altes mit Neuem – und entfaltet selbstbewusst eine Bühne zur Selbstdarstellung für das neue europäische Machtzentrum. Auf dieser Bühne kann der Sonnenkönig glänzen, mit seinem apollinischen Licht andere Kulturen überstrahlen und in den Schatten seiner kulturellen und politischen Größe stellen, getreu dem Motto „gouverner c’est paraître“9.
Auf die gleiche Art und Weise wie der neue Regierungsstil des Sonnenkönigs als Neugestaltung des normativen politischen Systems im Frankreich des 17. Jahrhunderts empfunden wurde, ist die Ballettkomödie als Neugestaltung des normativen Gattungssystems zu sehen – kulturhistorische Ereignisse, welche sich berechtigterweise auf beiden Ebenen als Umbruch bezeichnen und sich unter diesem Gesichtspunkt synergetisch harmonisieren lassen: Vom gönnerhaften Mäzenatentum profitieren die Künstler des Gesamtkunstwerkes, wie auch der Monarch jenes zur Stärkung seiner Kulturpolitik einsetzt. Die Ornamentik qua gattungsspezifisches Charakteristikum trägt maßgeblich zur Institutionalisierung der Ballettkomödie bei, mit der Folge, dass sie zum zentralen Angelpunkt der höfischen Festkultur des Roi Soleil wird.
Ferner lässt sich der ephemere Charakter der Theateraufführungen auf die Lebenszeit des Genres übertragen, denn bereits nach nur zehn Jahren ändert sich der königliche goût. Der Herrscher wendet sich fortan vermehrt der Oper und anderen musikalischen Divertissements zu, die durch die Gründung der Académie royale de Musique im Jahre 1672 endgültig privilegiert werden. Dadurch werden die Ballettkomödien immer mehr verdrängt. Ein Jahr später sollte Molière beim vierten Auftritt des Malade imaginaire am 17. Februar 1673 das Zeitliche segnen, während zeitgleich – so die Legende – Lully seine erste französische Oper Cadmus et Hermione aufführte.10 Dieser fast schon symbolische Tod Molières wird kulturpolitisch dadurch besiegelt, dass der Italiener mit dieser Aufführung den Geschmack des Herrschers trifft, ihm daher der Palais Royal zur Verfügung gestellt wird und die Theatertruppe weichen muss. Nach diesen Ereignissen verschwindet die Gattung im Wesentlichen von der Bühne. Einige spätere Imitationen von Thomas Corneille wie L’inconnu11 (1675) erinnern an das Genre, werden jedoch nicht für das große höfische Divertissement, sondern für das Theater Guénégaud komponiert. Auch Autoren wie Florent Dancourt, Jean-François Regnard oder Charles Dufresny, deren Werke12 an das molièresche Modell der hybriden Komödie erinnern, erreichen nie dieselbe Aufmerksamkeit wie sie Molière zuteilwurde. Diese Theaterstücke können nur im weiten Sinne als Fortsetzung der Gattung verstanden werden, weil sich Molières Ballettkomödien gerade auch über das Exklusivitätsmerkmal der Einbettung in die höfischen Feste definieren. Aus ästhetischer Sicht ist die Tatsache, dass Molière die Möglichkeiten der Gattungshybridität gänzlich ausschöpft und perfektioniert für den Niedergang der Ballettkomödie verantwortlich:
[B]ien que les dramaturges cherchent souvent à lier les agréments à la comédie, à son sujet et à son intrigue, ils ne parviennent jamais ni à cette nécessité profonde de l’union des arts, ni à cette unité qui embrassaient chez Molière les contrastes pour produire une signification originale.13
Eine erfolgreiche Weiterentwicklung dieses Komödientypus führte zwangsweise zur opéra im Musiktheater und zum ballet d’action14 im Tanztheater beziehungsweise zur opéra-ballet15. Wenngleich der Prunk der Ballettkomödie nicht lange glänzt, so ist das Dodekameron doch ein Markstein in der Entwicklung des lyrischen Theaters. Guy Spielmann erscheint es daher unmöglich, die Komödie am Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. ohne ihre Orientierung am théâtre lyrique zu verstehen: „[D]ans les années 1690, […] la grande majorité des comédies comportait alors des éléments musicaux.“16 Ferner wird Molières Totaltheater über das klassische Zeitalter hinaus kleinere Hybridgattungen wie das Vaudeville, das Singspiel, die Operette und das Musical beeinflussen – alle streben nach einer Verbindung und einem Kompromiss von gesprochenen und gesungenen Textpartien.17
1.7 Ein Multimediaspektakel und seine Verortung in der Gattungslandschaft
Die aus einer Gattungsfusion entstehende neue Gattung charakterisiert sich aufgrund ihrer diversen Einflüsse durch ihr hybrides Substrat. An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wo die Ballettkomödie innerhalb der Gattungslandschaft zu situieren ist. Die neue Künstepluralität bringt die Theaterinszenierungen der damaligen Zeit an ihre Gattungsgrenzen, was sich im dargestellten Denominationschaos teilweise noch heute reflektiert; sie durchbricht habitualisierte Wahrnehmungsformen und Gattungsschemata. Aufgrund dieser Grenzsituation ist der Übergang zur Oper sicherlich fließend und die Ballettkomödie wird unter diachronem Gattungsaspekt als Vorform der französischen Oper bezeichnet.1 Obschon sich die Oper durch eine Multimedialität definiert, erscheint es sinnvoll, die comédie-ballet der Dramatik und damit dem Sprechtheater zuzuordnen. Diese Klassifikation begründet sich nicht nur ob ihrer historischen Tradition, sondern auch ob der Einteilung der unterschiedlichen Theatergattungen nach der Repräsentationsart des zentralen Trägers, dem überwiegend sprechenden, singenden oder tanzenden Darsteller. Demzufolge gehört die Ballettkomödie zum Sprechtheater und die Oper zum Musiktheater. Das Kriterium der Hauptrepräsentationsart zeigt zudem, dass die Verortung der Ballettkomödie innerhalb des Tanztheaters auszuschließen ist, wobei die Balletteinlagen allein betrachtet ausschließlich diesem Theatertypus zuzuordnen wären. Molières Bezeichnung seiner Intermedien als ornements verrät in gleichem Maße, dass das Wesentliche der Ballettkomödie die Komödie bleibt, der dramatische Dialog. Die zeitgenössische Aufführungspraxis zeigt darüber hinaus, dass die musikalischen und tänzerischen Intermedien häufig gestrichen wurden. Der zentrale Angelpunkt des Multimediaspektakels ist sonach die Komödie, die im Gegensatz zu den Intermedien immer inszeniert wurde. Der Hybridität der comédie-ballet geschuldet handelt es sich nicht um die reinste Form des Sprechtheaters, da die Künstepluralität die Klassifizierung der Ballettkomödie als einfaches Sprechtheater ebendieses an seine Einteilungsgemarkung stoßen lässt und es in die Nähe von Musik- oder auch Tanztheater bringt. Die mediale Trias ermöglicht eine individuelle Mischung, die die einzelnen Ballettkomödien zu autonomen Unikaten künstlerischen Ausdrucks macht; die Ballettkomödie definiert sich als Gattung durch die Mischung ihrer Repräsentationsarten.
An dieser Stelle ist noch explizit auf die hierarchische Verortung der Ballettkomödie innerhalb der Gattung der Dramatik einzugehen. Diese literarische Hauptgattung verzweigt sich in der französischen Klassik grundlegend in Tragödie und Komödie,2 eine Differenzierung, die ihrerseits variable Gestaltungsmöglichkeiten in sich birgt. Die herausgearbeiteten Elemente zur Gattungspoetik lassen erkennen, dass sich die Ballettkomödie als Subgattung der Komödie verstehen lässt. Die paradigmatische, serielle Struktur der Komödie erleichtert die Einbindung der Intermedien.
Weitere Probleme bei der Klassifizierung des Genres ergeben sich aus seiner Thematik, da die Untergattungen zumeist am Komödiensujet und nicht an ihrer medialen Struktur gemessen werden. Streng genommen müsste man deshalb die meisten Ballettkomödien ebenso als Charakterkomödien bezeichnen, um ihre Sujetstruktur entsprechend zu respektieren, wenn eine comédie de caractère folgendermaßen zu definieren ist: „Pièce, genre, où l’auteur met en lumière en les exagérant certains travers de ses personnages et, à partir d’eux, de la société.“3 Die komischen Helden der Komödien sind sozial besetzt und daher keine Typen, da sie dank einer Fülle von Details in ihrer Zeit verwurzelt sind.
Vor dem Hintergrund des Gesagten scheint es angebracht, beim Dodekameron vorrangig von Ballettkomödien zu sprechen und erst an zweiter Stelle von Charakterkomödien, da es sich bei beiden Subgattungen der Komödie um unterschiedliche Komikästhetiken und mediale Strukturen handelt, die selbst dann nicht pauschalisiert werden sollten, wenn sie inhaltlich ähnlich strukturiert sind. Ferner ist die Entwicklung von der Komödie zur Ballettkomödie im Rahmen von Molières Gesamtwerk als eine Reflexion über die Grenzen der klassischen Komödie im normativen und unangreifbaren Regeldiskurs des zeitgenössischen Gattungsspektrums zu verstehen. Die heutzutage als große Leistungen des 17. Jahrhunderts erscheinenden Sprachkunstwerke, zu denen Molières Ballettkomödien unzweifelhaft hinzuzuzählen sind, entstanden gerade durch eine Transgression der engen Gattungsgrenzen, wie Reinhard Krüger feststellt.4
Die französische Bezeichnung comédie-ballet spiegelt die Zugehörigkeit und Spezifität der Untergattung stärker wider als das deutsche Kompositum. Diese Zuordnung wertet den Dramentext in seiner Gesamtheit auf und somit auch die schriftstellerischen Qualitäten Molières, die teils in den Schatten der Gesamtdarstellung rücken, weil man bei den Ballettkomödien den Eventmanager gern vor dem Poeten sieht:
Toute la richesse de ce genre de spectacle tient dans sa représentation. [L]a comédie de Molière est d’une autre essence. Le poète y domine, il n’est jamais à ce point assujetti au peintre, au machiniste, au danseur ou au musicien. Et si sur la fin de sa carrière il songe davantage à satisfaire la vue et l’ouïe de son public, cette promotion du spectaculaire, accomplie dans un esprit de recherche et dans l’espoir de parvenir à un art total et multidimensionnel, ne nuit en rien à la suprématie de son texte.5
Zusammenfassend kann am Ende dieses Kapitels eine Gattungsdefinition der comédie-ballet von Molière gegeben werden. Die Ballettkomödie ist zunächst und vor allem ein fester Bestandteil absolutistischer Kulturpolitik und reflektiert in ihrer Eigentümlichkeit den goût mondain. Die Originalität der Subgattung der Komödie zeigt sich überdies darin, dass in den Verlauf der Geschichte musikalische und tänzerische Intermedien eingearbeitet sind. Sie sind kunstvoll mit der Komödie sowohl über die Dramen- als auch die Sujetstruktur verzahnt und treten in der Regel um die Akte herum auf, sodass sie als dramatisierte und theatralisierte ornements satellites essentiels der Komödie zu begreifen sind. Hierzu zählen kleine Sketch-Einlagen, einfache Tänze, Pantomimen, Chöre, Musikstücke, Rezitationen/Allegorien, Singspiele mythologischen und surrealistischen Charakters, pompös ausgestattete Balletttänze, burleske Typenstücke, fantasievolle und exotische Aufzüge, bukolische Pastoralen und große karnevaleske Zeremonien. Das szenische Bühnenbild der comédie-ballet ist äußerst dynamisch und alterniert zwischen Komödie und Ballett. Das Totaltheater zeichnet sich durch einen nouveau langage théâtral aus, der eine gattungsspezifische Organisationsform von Kommunikationsprozessen generiert. Dieses neue Intermedialitätskonzept umfasst die drei Ausdrucksformen Sprache, Musik und Tanz und evoziert eine innovative Komikästhetik im klassischen Theater. Aufgrund ihrer Familienähnlichkeit sind Molières zwölf Ballettkomödien unter dem Begriff des Dodekamerons zusammenzufassen.