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Der linkshändige Pfad im Hinduismus
Die bedeutendsten und erhellendsten Studien zur Spiritualität des linkshändigen Pfades im hinduistischen Kontext aus neuerer Zeit sind zweifellos die brillanten Darstellungen der Lehren des geheimnisvollen, mysteriösen indischen Weisen Vimalananda aus der Feder des amerikanischen Ayurveda-Meisters Robert Svoboda: Aghora: At the Left Hand of God (1986) und Aghora II: Kundalini (1993).
Allgemein formuliert, ist „Hinduismus“ die Bezeichnung für eine Vielfalt religiöser Schulen, die alle auf die antike arische Tradition zurückgehen, wie sie letztlich in den Veden verwurzelt ist. Es gibt Hunderte von Schulen innerhalb des Hinduismus. Oftmals formulieren sie völlig entgegengesetzte Antworten auf das, was sie für die wesentlichen Fragen halten. Es gibt aber einige Punkte, in denen die meisten dieser Schulen im Großen und Ganzen übereinstimmen:
1. Die Veden enthalten unfehlbare Weisheit.
2. Die Seele (Atman) ist real existent und unsterblich.
3. Die Seele unterliegt dem Prozeß kontinuierlicher Wiedergeburt (Samsara).
4. Dieses Wiedergeborenwerden ist gleichbedeutend mit Leiden.
5. Die Ursache der Wiedergeburt sowie des Leidens ist das Handeln (Karman).
Das Ziel des orthodoxen Hinduismus besteht im Beenden der Wiedergeburten und/oder in der Vereinigung mit dem universalen Absoluten.14 Diese Vereinigung mit dem Absoluten wird als Befreiung bezeichnet (Moksha oder Mukti). Abgesehen von der Übereinstimmung in diesen allgemeinen Prinzipien, sind die Methoden, die verwendet werden, um dieses Ziel zu erreichen, in den verschiedenen hinduistischen Schulen sehr unterschiedlich.
Die größten Sekten innerhalb des Hinduismus sind die Vishnuiten sowie die Shivaiten (die sich von ihrer Verehrung Vishnus bzw. Shivas herleiten). Diese Hauptsekten unterteilen sich in Hunderte von Untergruppen. Auf einer äußersten Seite des hinduistischen Spektrums stehen die philosophischen Schulen, die sich vor allem in der Kaste der Brahmanen finden. Das andere Extrem bilden die tantrischen Kulte. Diese sind selten strikt vedisch und oft antibrahmanisch ausgerichtet. Es wäre allerdings ein großes Missverständnis anzunehmen, dass alle tantrischen Sekten den linkshändigen Pfad beschreiten.
Man kann sagen, dass es seit dem Aufstieg des Buddhismus (an der Wende vom sechsten zum fünften Jahrhundert v.u. Z.) offen häretische Schulen im Hinduismus gibt. Häresie als solche kann erst in einer Religion mit einer starken fixierten Dogmatik zu einem „Problem“ werden. Der Hinduismus ist seit seiner prähistorischen Entstehung aus der vedischen Religion bemerkenswert frei von solchen Dogmen. Es ist daher möglich, dass die Schulen und Philosophien ein derart breites Spektrum von Weltanschauungen innerhalb des Hinduismus bilden können, wie wir es dort finden, und dass auch das, was wir den linkshändigen Pfad nennen, auf dem Boden des Hinduismus geduldet werden kann, ohne dass es „orthodox“ sein müsste.
Diese Toleranz des linkshändigen Pfades entstammt keiner bewusst vertretenen oder legitimierten moralischen „Fairness“, sondern ergibt sich daraus, dass die ursprüngliche Vielheit der spirituellen Wege, die dem archaischen indoeuropäischen Denksystem innewohnte, in beiden indischen Traditionen, in Hinduismus und Buddhismus, erhalten geblieben ist. Wenn das Ideal ein vielfarbiges Spektrum an möglichen Variationen von links nach rechts und von oben nach unten ist, dann fehlt es am Eifer, ein stark dualistisches Denken in Gegensätzen von schwarz und weiß auszubilden. Man denkt dann üblicherweise nicht in Begriffen von „dies oder jenes“, sondern eher „dies und jenes“. In einem solchen System hat ein energischer Sinn für die Schichten der Wirklichkeit und der Bedeutungen überlebt. Dieser unterschwellige Sinn fördert eine systemische Toleranz nachhaltiger als jede andere, die dogmatisch oder juristisch vertreten wird. Freilich heißt das nicht, dass orthodoxe Anhänger des rechtshändigen Pfades typischerweise meinen würden, der linkshändige Pfad sei genauso gut wie ihr eigener. Auch hier wohnt dem rechtshändigen Pfad eine Tendenz inne, in Begriffen von „entweder/oder“ zu denken, weshalb der Orthodoxe von den Praktikern des linkshändigen Pfades (oder von jedem anderen Weg, der von dem seinen abweicht) gewöhnlich denkt, dass sie „falsch“ liegen oder wenigstens teilweise irren: Explizit wird etwa im Vaikhanasasmarta Sutra (aus dem vierten Jahrhundert u. Z.) von den Visaragas behauptet, dass sie „den falschen Weg gehen.“15
Innerhalb des Hinduismus (wie überall) kann der linkshändige Pfad zum einen im Hinblick auf seine Zielsetzung, zum anderen bezüglich seiner Techniken und Methoden untersucht werden. Gemäß einigen erklärten Praktizierenden des Vamamarga (linker Weg) ist das endgültige Ziel des linkshändigen Pfades dasselbe wie im rechtshändigen. Man sagt, dass es zwei Wege seien, die zum selben Ziel führen. Aber es hängt doch immer mit der Perspektive des jeweiligen Sprechers zusammen, von welcher Art dieses Ende sein soll.
Streng genommen, besteht im Hinduismus das Ziel des Praktizierenden des linkshändigen Pfades (Vamamarga) in der Einheit des einzelnen mit seiner individuellen Seele (Jivatman) sowie in der fortdauernden Unabhängigkeit dieses verwirklichten Jivatman von der universalen oder höchsten Seele (Paramatman).16 Man kann es auch so formulieren, dass der Anhänger des Vamamarga versucht, sein individuelles Selbst (Atman) – die persönliche Gottheit – zu aktualisieren und sodann die Unabhängigkeit und Freiheit dieses individuierten Selbst auch in Zukunft zu behaupten.
Insgesamt ist dies, historisch betrachtet, nicht weit von den archaischen indoeuropäischen Glaubensvorstellungen entfernt, nach denen Menschen zu Gottheiten werden konnten, wenn sie ein heroisches oder magisch inspiriertes Leben geführt haben. Die Metaphysik blieb dieselbe, die sie immer war; lediglich eine Um- oder Neubewertung wurde vorgenommen, die auf einer veränderten Auffassung des Lebens als Kampf, als Sieg oder Niederlage, beruht. Während die Urväter in ihm eine ruhmvolle Daseinsfülle erkannten, die sie bis in alle Ewigkeit fortsetzen wollten, sahen die „Reformer“ des Hinduismus wie des Buddhismus das Leben, den „Kreislauf des Werdens“ (Samsara), als „leidhaft“ an.
Neben anderen hat namentlich Julius Evola bemerkt, dass die Tantras durchaus an die ältesten Traditionen der Veden, wie sie im vedischen Zeitalter selbst verstanden wurden, anknüpfen:
Es folgt aus dieser [tätigen] Weltsicht, dass ein Teil des Geistes der frühen vedischen Zeit, trotz aller Veränderungen, in den Tantras lebendig blieb. In der damaligen Zeit lebten die Menschen nicht als Asketen; sie rangen mit der Welt und mit Samsara, fühlten sich jedoch eher von freien, unbeschränkten Kräften durchdrungen, kämpften gemeinsam mit den verschiedenen Göttern und übernatürlichen Mächten und waren von einer kosmischen, triumphierenden Freude erfüllt.17
Der linkshändige Pfad im Rahmen des Tantrismus
Da die Unterscheidung von Dakshinachara und Vamachara verhältnismäßig spät in der Geschichte des Hinduismus vorgenommen wurde – sie geht womöglich nicht weiter als tausend oder fünfzehnhundert Jahre zurück –, reichen die hinduistischen Schulen, von denen zu Recht gesagt werden kann, dass sie dem Vamamarga angehören, streng genommen nicht bis in die ältesten Schichten der historischen Religion des Veda zurück. Wie wir gesehen haben, entstammt der terminus technicus „linkshändiger Pfad“ eigentlich dem hinduistischen Tantrismus. In der globalen Sichtweise, die ich hier einnehme, muss der linkshändige Pfad allerdings nicht allein auf die tantrischen Sekten beschränkt werden. Gleichwohl finden Untersuchungen des linkshändigen Pfades fast wie von selbst innerhalb des Rahmens des Tantrismus statt.18
Einige tantrische Texte unterscheiden sieben „Pfade“ oder „Wege“ (Skt. Acharas). Sie unterteilen sich in den „rechten Pfad“ (Dakshinachara), in den „linken Pfad“ (Vamachara) sowie in manche weiteren Wege, die zwischen diesen beiden verlaufen.19
Abb. 2.2. Sieben tantrische Pfade
Man sagt, dass jemand in einen der Dakshinacharas hineingeboren werde, demgegenüber aber in jeden der Vamacharas initiiert werden müsse.20 Dies steht zweifellos mit den charakteristischen außernatürlichen Tendenzen im Zusammenhang, die überall auf dem linkshändigen Pfad angetroffen werden. Im Wesentlichen dem Weg zu folgen, der durch die Natur, mit der Geburt, vorgezeichnet ist, heißt, mit äußeren Umständen übereinzustimmen. Gegen sein Schicksal aufzubegehren – bewusst und selbständig zu bestimmen, welches der eigene Weg sein soll –, stellt hingegen eine Ausbildung der Fähigkeit dar, mit der sich der Initiierte aus seiner Umwelt löst.
Die drei Stufen der Initiation bei der Ausübung des Vamachara sind:
1. Pashu
2. Vira
3. Divya
Der Pashu ist der „Gefesselte“. Es handelt sich bei ihm um die nichtinitiierte individuelle Seele. Der Pashu verwandelt sich selbst, durch die Kraft seines eigenen Willens, in einen Vira, einen „Helden“ oder „Krieger“. Zu erkennen ist ein Vira an seinem Mut, seiner Freundlichkeit, Klugheit und Regsamkeit. Wenn jemand die Stufe des Vira erreicht hat, ist er fähig, entweder zu einem Dakshinachara oder zu einem Vamachara initiiert zu werden. Wenn er den rechtshändigen Pfad einschlägt, wird er bhakti (Hingabe) pflegen und/oder jnana (Wissen) erwerben, aber auf dem Vamachara-Weg wird er außerdem noch shakti-mantra (besondere geistige Kräfte) entwickeln und das panchatattva (die fünf Elemente) studieren. Die beiden letzteren sind Verbindungen aus Theorie und Praxis, die auch sexuelle Rituale einschließen. Der Geweihte erreicht einen göttlichen (divya) Zustand, wenn alle diese Fähigkeiten „so sehr Bestandteil seines Wesens geworden sind, dass sie von diesem nicht mehr getrennt werden können.“21
Eine andere Weise, die verschiedenen „Pfade“ einzuordnen, besteht in der Ansicht, dass der Weg der Veden, Vaishnava, und Shaiva dem Pashu bestimmt sind, dass Dakshinachara und Vamachara für Viras gelten und schließlich Siddhanta und Kaula den Divyas des linkshändigen Pfades offenstehen, obwohl der Kaulachara symbolisch auch von Eingeweihten des rechtshändigen Pfades praktiziert werden kann (siehe Abb. 2.3).22
Abb. 2.3. Die Pfade der hinduistischen Schulen
Das Kulavana-Tantra unterteilt die Viras des Vamachara in verschiedene Kategorien bzw. Stufen:23
1. Kshatriyas (charakterisiert durch Mut und Furchtlosigkeit)
2. Siddhas (die einen Zustand der Vollendung erreicht haben und als „geweiht“ bezeichnet werden können)
3. Kaulas (deren „Recht“ alle anderen Gesetze übersteigt)
Vimalananda bezeichnet mit dem Wort „Siddha“ jemanden, „der als Ergebnis seiner sadhana [spirituelle Praxis] Unsterblichkeit und übernatürliche Kräfte erreicht hat.“24
Hinsichtlich der Kaulas bemerkt Evola:
Nichts ist dem Kaula sowie denjenigen, die den Zustand eines wahrhaften Siddha-Vira erreicht haben, verboten, da sie einfach sind und wissen. Sie sind Herren ihrer Leidenschaften und gänzlich von Shakti [Macht] durchdrungen. Wie der höchste Shakti oder Parashakti über und jenseits von allen Gegensätzen steht, so lebt der Kaula jenseits von Gut und Böse, Ehre und Schande, Verdienst und Sünde und allen anderen Werten, die von gewöhnlichen Menschen, sogenannten Pashus, hochgeschätzt werden.25
Shakti (Macht) wird oft damit gleichgesetzt, „absolut frei“ zu sein, und in demselben Zusammenhang wird der Kaula svecchakari („jemand, der/die tun kann, was ihm/ihr beliebt“) genannt. Pashus oder andere Alltagsmenschen werden die Kaulas wegen ihres Verhaltens oder allein schon wegen ihrer Anwesenheit oftmals fürchten, meiden oder verfluchen.26
Einer der bezeichnendsten Unterschiede zwischen den beiden tantrischen Pfaden – obwohl sie beide unter der Herrschaft Shivas stehen –, liegt darin, dass der Adept auf dem rechtshändigen Pfad immer, selbst auf der höchsten Stufe seiner Verwirklichung, „etwas über ihm Stehendes“ anerkennt. Im Gegensatz dazu wird der Eingeweihte auf dem linkshändigen Pfad selbst die „höchste Autorität“ [Chakravartin, der „Weltherrscher“].27
In einem eher allgemeinen Sinn, der strukturell auf die menschlichen Existenzstufen verweist, die der italienische neuplatonische Philosoph Pico della Mirandola beschreibt (siehe Kap. 6 dieses Buches), legt Vimalananda die drei Seinszustände dar, in denen die verschiedenen Menschentypen existieren können: als Khara („Esel“), Nara („Mensch“) oder als Narayana („Gott selbst“). Vom Khara wird gesagt, dass er „nur an die drei untersten Chakras glaube“ (= an Essen, Fortpflanzen und Ausscheiden); sein Reich ist Abhibhautika (das Weltliche). Dem Nara oder „wahren Menschen“ wird immerhin zugesprochen, dass er im Bereich der drei oberen Chakras lebe. Weiterhin wird angenommen, dass zu jeder Zeit nur sehr wenige Naras in der Welt leben. Ihr Reich ist dasjenige des Adhyatmika (das Spirituelle). Nur ein Nara kann zu einem Narayana werden, was, von der spirituellen Technik her, dadurch geschehen soll, dass er Zugang zu den geheimen Chakras in seinem Kopfe findet. (Unten wird dies näher behandelt.) Das Reich, in dem der Narayana lebt, wird Adhidaivika (das „Astrale“) genannt.28
Vamacharins bzw. Praktizierende des linkshändigen Pfades sind gewöhnlich unter den Sekten zu finden, die dem Dienst der Götter Ganesha, Rudra, Vishnu, Shiva, Svayambhu, Veda, Bhairava, Ksetrapala, China, Kapalika, Pashupata, Bauddha, Kerala, Vira-Vaishnava, Sambhava, Chandra und Aghora verpflichtet sind oder den Göttinnen Kali, Tara, Sundari, Bharavi, Chinnamasta, Matangi und Vagala dienen. Es ist immer wichtig, im Auge zu behalten, dass der linkshändige wie der rechtshändige Pfad hier eher Methoden oder Zugangsweisen als Schulen sind, die an und für sich bestehen.
Methoden des linkshändigen Pfades im Hinduismus
Obwohl Vamacharins in all den verschiedenen, soeben erwähnten Kultgemeinschaften angetroffen werden können, ist es grundsätzlich die Verehrung der Göttin, in der Gestalt einer menschlichen Frau oder in Form weiblicher Symbole, durch die der männliche Vamacharin den linkshändigen Pfad praktiziert. Abgesehen von der Bedeutung „links“ steht das Sanskritwort vama auch für „Frau“ oder „Göttin“.29 Dahinter verbirgt sich die eigentliche Bedeutung, dass sowohl die Göttin als auch die Frau als Verkörperungen von Shakti (Macht) angesehen werden.30 Es ist, zumal aus einer männlichen Perspektive, einleuchtend, dass das Wesen eines Vamachara in der vollständigen Verwandlung des initiierten Menschen in etwas Übermenschliches und einem Gott (oder einer Göttin) Gleiches besteht. Dies gehört zu den Ursachen für die große Bedeutung des Antinomismus (der Zurückweisung aller Arten von Vorschriften) für die Verfahrensweisen aller östlichen Ausprägungen des linkshändigen Pfades.
Ein häufig übersehener Aspekt sowohl des Individualismus als auch des Antinomismus der indischen Systeme des linkshändigen Pfades verbirgt sich in den Lehren des Hatha Yoga. Das Sanskritwort hatha bedeutet „Kraft“ oder „mühsame Anstrengung“, weshalb es dazu verwendet wurde, solche yogischen Methoden zu bezeichnen, die sich vor allem des menschlichen Körpers als physisches Vehikel bedienen.31 Von der Übung des reinen Hatha Yoga wird gesagt, dass sie Jivanmukti hervorbringen und dem individuellen Dasein Unsterblichkeit verschaffen könne, indem „alle psychophysischen Energien“ aktiviert würden.32 In den Upanischaden heißt es, „jeder Gott ist hier, im Körper, eingeschlossen“, und auch die Tantras schätzen Körperlichkeit und individuelle Existenz hoch: „Shiva ist Sadashiva [= Shiva als reines „Sein“ betrachtet]33.“ Die Tantras zeigen, wie das Vedische Zeitalter, keine Verachtung des Körpers – im Gegenteil wird sowohl sein Genuß als auch seine Ergründung zwecks Enthüllung der in ihm verborgenen Geheimnisse hervorgehoben.34
Von außen gesehen besteht einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den Methoden des Dakshinamarga und des Vamamarga darin, dass der Dakshinacharin seine „Verehrung mit Hilfe eines Ersatzes“ ausübt, während der Vamacharin das anderenfalls nur Symbolische real praktiziert. Es kann vorkommen, dass er an Grausamkeiten und anderen Abirrungen von den sozialen und religiösen Normen als einem Weg teilhat, sich selbst völlig außerhalb der profanen Gesellschaft zu platzieren. Dadurch wird er von den Fesseln und Tabus der Gesellschaft befreit und befreit sich damit zugleich auch von den spirituellen Fesseln.35 (Man bedenke die virtuelle Identität von spiritueller und sozialer Ordnung, wie sie im indischen Kastensystem zum Ausdruck kommt!) Die Verfahrensweisen des linkshändigen Pfades scheinen die bei weitem archaischeren zu sein.36
Eines der Hauptprinzipien der Praxis des linkshändigen Pfades liegt darin, Befreiung (hier „Yoga“ genannt) anzustreben und dennoch die Fähigkeit, Freude (Bhoga) zu empfinden, zu behalten. Die Methode, die dies ermöglicht, impliziert die Identifikation (Smadhi) des individuellen Selbst mit einem höheren Selbst während eines Glückszustandes (Bhoga).37 Im Kularnava Samhita (5.219) heißt es dazu: „Durch Freude erwirkt jemand Befreiung; Freude ist das Mittel, den höchsten Wohnsitz zu erlangen. Der Weise, der [den Geist] zu erobern verlangt, sollte daher alle Freuden erfahren.“38
Vimalananda deutet auf einen Grund hin, weshalb sich der Anhänger des linkshändigen Pfades nicht mit einer Gottheit außerhalb seiner selbst identifiziert: Es liegt einfach daran, dass er das Göttliche und die Anwesenheit in seiner Nähe so sehr liebt, dass er seine Gedanken und Gefühle kontrolliert, um die Wirklichkeit dieser „Gemeinschaft mit dem Geliebten“ besser genießen zu können.39
Wer dem Vamamarga folgt, wird möglicherweise völlig die Methoden und Rituale des Dakshinamarga als unnütz oder ohne jede Hilfe für die geistige Entwicklung zurückweisen. Vielleicht wird er die Verehrung seiner Gottheit tagsüber auf traditionelle Weise fortsetzen und in der Nacht die Riten des Vamachara praktizieren. Nächtliche Kultpraktiken sind oft Kennzeichen antinomistischer Schulen.
Vimalananda unterscheidet zwischen zwei „Wegen“: dem Weg des Jnana (Wissen) und dem des Bhakti (Andacht). Wenn ein Schüler dem Weg des Jnana folgt, trennt er sich, wie man sagt, von seinem gewöhnlichen Körper und vereinigt sich selbst mit seinem „kausalen Körper“; von diesem Zeitpunkt an befolgt man die Weisungen (Adesha) eines inneren Guru. Wenn man andererseits den Bhakti-Weg geht, behält man die kontinuierliche Hingabe an ein Wesen bei, das außerhalb seiner selbst wahrgenommen wird. Hinsichtlich der Frage nach der Einheit mit einer Gottheit (in diesem Fall Krishna) sagt Vimalananda: „Aber die meisten Verehrer Krishnas wollen sich niemals mit ihm vereinigen; sie wünschen allesamt ihre eigenen Identitäten zu behalten, um seine Süßigkeit immer und immer wieder, für immer und ewig, zu schmecken.“40
Mit Bezug auf die Perspektive des linkshändigen Pfades fügt Svoboda hinzu, dass „man auf dem Weg des Jnana selbst Shiva wird, während man ihn auf dem Weg des Bhakti nur verehrt, aber von ihm unterschieden bleibt.“41 Diese Differenzierung ist von großer Bedeutung und sollte genau verstanden werden. Sie scheint für den linkshändigen Pfad von universeller Geltung zu sein. Auf dem Weg des Jnana verwandelt sich der Praktizierende selbst in ein Wesen von göttlicher Art, ohne seine eigene individuelle Existenz zu heiligen, während der Anhänger des linkshändigen Bhakti-Pfades danach strebt, seinem göttlichen Gegenüber nahe zu kommen und in der Gegenwart dieser Gottheit zu leben, ohne sich mit ihr zu vereinigen.42
Antinomismus findet sich in vielen Schulrichtungen des linkshändigen Pfades überall auf der Welt. In jeder Schule haben Philosophie und Praxis ihren eigenen Seinsgrund, aber allen liegt das Gebot des linkshändigen Pfades zugrunde, sowohl das eigene Selbst als auch die eigene Welt zu verwandeln. Um etwas zu verwandeln, muss man seine alte Form erst auflösen, bevor man ihm seine neue, gewünschte Gestalt geben kann. Um etwas zu re-konstruieren, muss es zunächst de-konstruiert werden. Diese postmoderne Auffassung ist in Wahrheit ziemlich alt.
Im Hinblick auf Antinomismus und den Tantrismus des linkshändigen Pfades stellt der französische Indologe Louis Renou fest: „Wir beobachten eine Umkehr normaler Andacht und normaler ethischer Grundsätze. Die Tatsache, dass dergleichen nun Gegenstand religiöser „Verehrung“ ist, zeigt eindeutig, dass eine Schwelle überschritten wurde, bis zu welcher jene Dinge als sündhaft wahrgenommen wurden.“43 Daher finden Gegenstände oder Praktiken, die bei einem orthodoxen Hindu (Dakshinachara) gewöhnlich Scham, Hass oder Furcht hervorrufen würden, bereitwillige Huldigung und werden mit einer sublimierten Aura der Heiligkeit versehen, um die sogenannten drei Knoten Scham, Hass und Furcht zu lösen. „Das grundlegende Prinzip des linkshändigen Pfades besteht darin, dass ein spiritueller Fortschritt nicht durch die falsche Verdrängung unserer Begierden und Leidenschaften zu erzielen ist, sondern durch eine Läuterung dieser starken Triebe, die uns überwältigen können, zu Mitteln der Befreiung.“44
Nach Daniélou unterrichtet uns das Kularnava-Tantra darüber, dass „der Herr der Tränen (Rudra) in den Lehren des linkshändigen Pfades dargelegt hat, inwiefern spirituelle Entwicklung am besten durch solche Mittel erreicht werden kann, die den Untergang des Menschlichen bewirken.“45
In seiner Erörterung des Kulavana Tantra weist Evola darauf hin, dass die Arbeit eines Vira auf seinem Weg, ein Divya zu werden, in der Reinigung seines Willens besteht (Icchashuddhi). Diese Reinheit wird als nackt, transzendent, fähig zur Selbstbestimmung, jenseits aller einander entgegengerichteten Werte und Gegensatzpaare charakterisiert. Während der Ausübung von Icchashuddhi sollen die folgenden acht Fesseln systematisch zerrissen werden: daya (Sympathie), moha (Täuschung), lajja (Scham oder der Begriff von Sünde), bhaya (Furcht), ghrina (Abscheu), kula (Familie, Verwandtschaft, Clan), varna (Kaste) und sila (gewohnte Sitten und Anschauungen).46 In dem Maße, in dem diese Fesseln abgeworfen werden, wächst die Freiheit des Vira.
Wie wir später in Kapitel 9 sehen werden, weist diese Technik des Icchashuddhi in vielerlei Hinsicht auf Anton LaVeys Weisung an seine Anhänger voraus, den „sieben Todsünden“ des Christentums zu frönen: Habgier, Stolz, Neid, Zorn, Völlerei, Begierde und Faulheit – um sich dadurch selbst ganz ähnlich von den Prägungen der modernen westlichen Zivilisation zu befreien.47
Der Grund, warum solche Techniken als effektiv für die Praxis des Hinduismus angesehen werden, liegt zum Teil darin, dass wir heute in dem als Kali Yuga bezeichneten Zeitalter leben: in einer Epoche der Weltgeschichte, die durch Materialismus und fehlendes Interesse an spirituellen Angelegenheiten gekennzeichnet ist. In einem solchen Zeitalter „kann allein die Leidenschaft, wenn sie zielführend eingesetzt wird, Egoismus, Hochmut und schnöde Berechnung überwinden. Sie allein hat die Kraft, den Menschen aus den Fängen, die ihn an seine Neigungen und Überzeugungen fesseln, zu befreien.“48
Die eigentliche Bedeutung des Antinomismus liegt darin, inwiefern er sich auf die individuelle Seele (Jivatman) und deren Transformation in ein göttliches Wesen bezieht. Sie hängt mit der Einheit der Persönlichkeit mit ihrer personalen Göttlichkeit, dem Jivatman selbst, zusammen. Die Begrenzungen oder Fesseln schränken das Selbst (Jivat) sowohl innerlich als auch äußerlich ein. Eine Verbindung des Selbst mit dem Jivatman ist so lange unmöglich wie die acht Fesseln den Willen des Vira einengen.
Obwohl nichts davon im tantrischen Kontext mit schlichtem „Egoismus“ gleichzusetzen ist, kann ein Element eines „göttlichen Egoismus“ in der Lehre wahrgenommen werden, dass das westliche – rote und Vamadeva („linkshändige Gottheit“) genannte – Gesicht Shivas gleichgesetzt wird mit „Ichheit“, dem Ahamkara, das mit Feuer, Sicht und Tätigkeit assoziiert wird.49
Ein solcher radikaler Individualismus ist für den linkshändigen Pfad charakteristisch. Svoboda bemerkt, dass die Suchenden „versuchen sollen, ihren Drang nach Individuation von Maya [Bewusstlosigkeit/Objektivität] Richtung Chit [Bewusstsein/Subjektivität] zu leiten, “ und sich nicht erlauben dürfen, weiterhin mit dem Strom ihres Lebens oder dem des Lebens ihrer Nachbarn zu schwimmen.“50 Weiterhin stellt er fest: „Aghoris [Anhänger der linkshändigen Aghora-Tradition] gestatten sich niemals, eine passive Begrenzung ihrer äußeren Umgebung zu dulden; sie nehmen selbst die Begrenzungen vor und definieren dabei ihre Umgebung.“51 In gewisser Weise an das kosmo-psychologische System von G.I. Gurdjeff (das wir in Kapitel 8 behandeln) anknüpfend, behauptet Svoboda außerdem:
Wir alle sind Teile des Universums, wie es sich manifestiert, und sind seinen Gesetzen solange unterworfen, bis wir die Kraft entwickelt haben, uns selbst in anderen Begriffen neu zu definieren. Ein Tantriker strebt danach, sva-tantra (‚aus sich heraus gestaltend’), frei von allen Begrenzungen, einschließlich denen der eigenen Persönlichkeit, zu werden.52
Bemerkenswert ist der kreative Aspekt der Praktiken des linkshändigen Pfades in vielen Schulen auf der ganzen Welt und zu jeder Zeit. Den linkshändigen Pfad zu gehen, heißt nicht einfach, ein „Programm“ festzulegen und diesem gemäß zu arbeiten. Auf dem Weg nach links verehrt man nicht einen Gott, sondern schafft Göttlichkeit aus einer subjektiven Perspektive. Hinsichtlich der Entwicklung der Lehren innerhalb der Aghora-Schule sagt Svoboda: „Vorschriften [sind] nicht in Steintafeln graviert, sondern in das Herz des jeweiligen Praktizierenden, der sie anwenden muss, um ein individuelles System hervorzubringen, indem er sich seine eigene spirituelle Nische meißelt.“53
Insbesondere für Männer schließt der Antinomismus den Drang nach der „Verehrung“ einer Göttin ein. Der Vamacharin huldigt der Göttin aber nicht einfach in der Gestalt einer Frau, sondern versucht selbst, eine Frau zu werden. Dies kann seine Wurzeln in einer historischen Entwicklungsstufe haben, auf der Männer die priesterliche Funktion von Frauen übernahmen und daher „Frauen werden“ mussten, um diese Aufgabe mit einer zeitlosen Autorität auszufüllen. Belege für diese Vermutung können in solchen Kultpraktiken gesehen werden, bei denen Priester anläßlich bestimmter Riten Frauenkleider tragen, oder in den Mythen und Legenden, die von Männern handeln, welche sich in Frauen verwandeln.54 Auf einer bestimmten geschichtlichen Stufe mag dies zutreffen; gleichwohl zeigt sich hier ein grundlegendes und ewiges, überzeitliches Prinzip, das sich in jenen Praktiken und Glaubensvorstellungen spiegeln mag. Gemäß der indischen (und möglicherweise auch der indoeuropäischen) Weisheit wird die „Struktur“ oder das Wesen eines subtilen oder spirituellen Körpers, der mit dem physischen Körper verbunden und in ihm enthalten ist, als weiblich angesehen (zumindest bei Männern). Mit anderen Worten: In jeder Person befindet sich eine spirituelle Wesenheit des entgegengesetzten Geschlechtes. (In der persischen Tradition kommt dieses Prinzip in Gestalt der Fravashis zum Ausdruck und in Skandinavien in den Fylgjur, Hamingjur usw. – nicht zu reden vom Begriff der Anima in der sehr einfühlsamen modernen Psychologie von C.G. Jung.) Wir können im indischen Denksystem auch zahlreiche technische Details kennenlernen, wie und warum dies so ist. Von den sieben größeren Padmas (Lotusblüten) oder Chakras (Rädern) wird gesagt, dass sie die sieben Wohnsitze des Weiblichen in jedem menschlichen Wesen seien: jeder von ihnen ist der Sitz einer Shakti (Kraft) von zweifellos weiblicher Natur.55 Indem er diese Shaktis erweckt und die Padmas oder Chakras (durch die Kraft des – ebenfalls weiblichen – Kundalini [Schlangenkraft]) aktiviert, verwandelt sich der Vamacharin allmählich (oder auch schnell) selbst in seine innere Göttin und „wird eine Frau“. Er unterzieht sich einer Transformation in sein „Gegenteil“.
Vor dem Hintergrund des linkshändigen Pfades benennt der Avhori-Weise Vimalananda das Ziel des Kundalini-Yoga als Wiedervereinigung von Shiva und Shakti, um Shiva in seiner ewigen Gestalt (als Sadashiva) wieder zu erschaffen: „Sadashivas linke Seite ist weiblich, und seine rechte Seite ist männlich; die beiden Prinzipien haben sich vereinigt, aber sie sind nicht ineinander übergegangen. Hätten sie sich vermischt, wäre dies das Ende des Spiels [Lila], und dies wäre durchaus keine Freude mehr.“56 Es ist hier mit Bedacht festzustellen, dass Vimalananda sehr genau zwischen Vereinigung [union] und Vermischung [merger] differenziert. Der Grund für seinen Wunsch, eine Vermischung beider Prinzipien letztlich zu vermeiden, liegt in der Freude, die er verlieren würde, wenn dies einträte.
Die wesentliche Grundlage dafür, dass die Kundalini-Shakti (Schlangenkraft) im Körper wachsen kann, liegt in der Fähigkeit, die gewöhnlichen oder üblichen (d. h. natürlichen) Strömungsmuster der körperlichen Kräfte umzukehren. Die Prana-Energie, die gewöhnlich aufwärts und in den Körper hinein fließt, wird veranlasst, abwärts und hinaus zu fließen, und die Apana-Energie, die normalerweise abwärts und/oder hinaus fließt, wird gezwungen, aufwärts oder hinaus zu strömen. Wenn beide sich, dem Paradigma ihres üblichen Fließens entgegenlaufend, treffen, beginnt Kundalini-Shakti zu entstehen, und man sagt, dass sie sich „küssen“. Es ist hier offenkundig, dass sich der „Antinomismus“ des tantrischen Systems auch in den Bereich einer esoterischen Psychologie erstreckt.
In der gewöhnlichen (rechtshändigen) Praxis des Kundalini-Yoga besteht das Ziel darin, das Sahasrara-Chakra über dem Kopf zu aktivieren. Aus der Perspektive des linkshändigen Pfades scheint der eigentliche Punkt aber lediglich darin zu liegen, die Schlangenkraft zum sechsten oder Ajna-Chakra („Kommandozentrum“) und von dort in die drei verborgenen Chakren zu leiten. Diese drei verborgenen Chakren Golata, Lalata und Lalana liegen tief in der Kehle am Zäpfchen bzw. am weichen Gaumen. Der Aghori oder Tantriker des linkshändigen Pfades will keinesfalls mit dem Sahasrara eins werden, in dem jede Unterscheidung zwischen diesem und jenem, „Ich“ und „Nicht-Ich“ oder „Ich“ und „Du“ aufhören würde, da es dann, wie Vimalananda sagen würde, keine Freude mehr gäbe.